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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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mein bevorstehendes Zusammentreffen mit Wills Schwester konzentriert gewesen.
    Lieber Mr Sadler,
    sagen wir, um eins? Es gibt ein nettes Café bei der Cattle Market Street, das Winchall’s heißt. Jeder kann Ihnen den Weg dorthin beschreiben.
    Marian B.
    Ich griff nach dem Serviettenständer auf dem Tisch, um meine Hände zu beschäftigen, aber meine rechte Hand verkrampfte gleich wieder, der Ständer kippte um, und die Servietten fielen auf Tisch und Boden. Ich fluchte leise in mich hinein und bückte mich, um sie aufzuheben, weshalb mir entging, wie sich die Tür erneut öffnete, eine Dame hereinkam und an meinen Tisch trat.
    »Mr Sadler?«, sagte sie atemlos, und ich sah auf. Mein Gesicht war vom Hinunterbeugen erhitzt, und ich stand sofort auf und starrte sie an. Ich brachte kein Wort heraus. Kein einziges Wort.

Wir sind anders, glaube ich
    Aldershot, April bis Juni 1916

I ch spreche zwar erst an unserem zweiten Tag in der Kaserne Aldershot mit Will Bancroft, aber er fällt mir am ersten schon auf.
    Es ist der letzte Tag im April, und wir kommen spätnachmittags an, sind etwa vierzig, ein wirr zusammengewürfelter Haufen, großmäulig und vulgär, nach Schweiß und falschem Heldentum stinkend. Die, die sich bereits kennen, sitzen im Zug zusammen und reden unablässig, voller Angst vor der Stille. Ihre Stimmen versuchen, sich gegenseitig zu ertränken. Die Fremden, die keinen kennen, verdrücken sich auf die Fensterplätze, lehnen die Köpfe gegen die Scheiben, tun so, als schliefen sie, oder starren in die vorbeiziehende Landschaft. Einige unterhalten sich nervös über die Dinge, die sie hinter sich zurücklassen, ihre Familien, die Freundinnen, die sie vermissen werden, aber keiner spricht über den Krieg. So wie sich alle geben, könnten wir auch auf einem Tagesausflug sein.
    Wir stehen in Gruppen zusammen, als sich der Zug leert, und ich finde mich neben einem etwa Neunzehnjährigen wieder, der sich gereizt umsieht und mich mit einem einzigen Blick taxiert und abtut. Er trägt einen sorgfältig koordinierten Ausdruck von Resignation und Ablehnung zur Schau, und seine Wangen wirken fleischig und wund, als hätte er sich mit kaltem Wasser und einem stumpfen Messer rasiert. Aufrecht steht er da und lässt den Blick wandern, als könnte er die Hochstimmung der anderen nicht fassen.
    »Sieh sie dir nur an«, sagt er mit kalter Stimme. »Verdammte Narren, jeder Einzelne von ihnen.«
    Ich betrachte ihn genauer. Er ist größer als ich, hat einen ordentlichen Haarschnitt und wirkt gelehrig. Seine Augen stehen ein wenig eng zusammen, und er trägt eine runde, dicke Brille, die er von Zeit zu Zeit abnimmt, um sich die Nasenwurzel zu massieren, auf der kleine rote Druckstellen zu erkennen sind. Er erinnert mich an einen meiner früheren Lehrer, nur dass er jünger ist und sicher nicht zu ähnlich unnötigen Gewaltausbrüchen neigt.
    »Was für ein Unsinn das alles«, fährt er fort und zieht so kräftig an seiner Zigarette, als wollte er das gesamte Nikotin mit einem Zug in seine Lungen saugen.
    »Was?«, frage ich.
    »Das hier«, sagt er und nickt zu den anderen Rekruten hin, die reden und lachen, als wäre das alles nichts als ein großer Spaß. »Das Ganze. Diese Idioten. Der Ort hier. Wir sollten nicht hier sein, keiner von uns.«
    »Ich wollte von Beginn an schon zur Armee.«
    Er sieht mich wieder an, denkt, er habe mich längst erfasst, schüttelt verächtlich schnaubend den Kopf und sieht wieder weg. Er zertritt seinen Zigarettenstummel mit dem Absatz, zieht ein silbernes Etui hervor und seufzt, als er feststellen muss, dass es leer ist.
    »Tristan Sadler«, sage ich und halte ihm die Hand hin, weil ich meine militärische Laufbahn nicht mit einem bitteren Beigeschmack beginnen will. Er starrt meine Hand sicher fünf Sekunden oder länger an, und ich frage mich, ob ich sie gedemütigt zurückziehen muss, aber dann endlich schüttelt er sie und nickt knapp.
    »Arthur Wolf«, sagt er.
    »Kommst du aus London?«, frage ich.
    »Essex«, antwortet er. »Chelmsford. Und du?«
    »Chiswick.«
    »Ist nett da«, sagt er. »Ich habe eine Tante in Chiswick. Elsie Tyler. Du kennst sie nicht zufällig?«
    »Nein«, antworte ich und schüttele den Kopf.
    »Sie hat einen Blumenladen am Turnham Green.«
    »Ich bin von Sadler & Son, dem Metzger in der High Street.«
    »Das heißt, du bist der Sohn.«
    »Früher war ich das«, sage ich.
    »Ich wette, du hast dich freiwillig gemeldet«, sagt er, und dabei legt er noch mehr

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