Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Mann sind.«
»In der Tat.«
»Nein, ich halte nicht viel von Romanen«, sagte sie. »Ich habe ihren Sinn nie wirklich verstanden, wenn ich ehrlich bin.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich, erstaunt, dass der Sinn von Romanen so schwierig zu verstehen sein sollte. Sicher, es gab einige Schriftsteller, die ihre Geschichten ungeheuer umständlich und verschwurbelt erzählten – viele von ihnen schickten ihre Manuskripte unverlangt an Whisby Press –, aber andere, wie eben Jack London, boten ihren Lesern eine solche Erholung vom elenden Schrecken des Daseins, dass mir ihre Bücher wie Gottesgeschenke erschienen.
»Nun, keine von den Geschichten ist doch wirklich passiert, oder?«, sagte Miss Bancroft. »Ich verstehe einfach nicht, warum ich von Leuten lesen soll, die es nie gegeben hat und die Dinge tun, die sie nie getan haben, und das in Situationen, die ebenfalls völlig erfunden sind. Da heiratet Jane Eyre also am Ende ihren Mr Rochester. Nur hat es Jane Eyre nie gegeben, genauso wenig wie Mr Rochester oder die wilde Frau, die er im Keller eingesperrt hat.«
»Auf dem Dachboden«, sagte ich pedantisch.
»Wo auch immer. Das ist doch nichts als ein Haufen Unsinn.«
»Ich denke, es ist vor allem eine Möglichkeit, der Wirklichkeit zu entfliehen.«
»Ich muss vor nichts fliehen, Mr Sadler«, sagte sie und betonte meinen Namen dabei, um zu zeigen, dass sie ihn behalten hatte. »Und wenn, würde ich eine Passage in ein warmes, exotisches Land buchen und mich selbst in eine Spionagegeschichte oder ein romantisches Missverständnis verwickeln lassen, so wie es die Heldinnen in Ihren wunderbaren Romanen tun. Nein, ich lese lieber Dinge, die wahr sind, Dinge, die tatsächlich geschehen sind. Sachbücher. Geschichte, Politik, Biografien. Solche Dinge.«
»Politik?«, fragte ich überrascht. »Sie interessieren sich für Politik?«
»Aber ja«, sagte sie. »Denken Sie, das sollte ich nicht? Weil ich eine Frau bin?«
»Ich weiß es nicht, Miss Bancroft«, sagte ich. Ihre offensichtliche Streitlust erschöpfte mich. »Ich … rede nur, sonst nichts. Interessieren Sie sich ruhig für Politik, wenn Sie mögen. Was geht mich das an.« Ich hatte das Gefühl, so nicht fortfahren zu können. Ich hatte nicht die Kraft, mit dieser Frau Schritt zu halten. Wir saßen hier noch keine Viertelstunde zusammen, und ich hatte bereits das Gefühl, dass es ähnlich sein musste, verheiratet zu sein. Ein ständiges Hin und Her und Gestreite, immer auf der Suche nach etwas, das sich kritisieren ließ, immer darauf aus, die Oberhand zu behalten, im Vorteil zu sein, das Spiel, den Satz und das ganze verfluchte Match zu gewinnen, ohne auch nur einen Punkt abzugeben.
»Natürlich betrifft das auch Sie, Mr Sadler«, sagte sie nach einer Weile, ruhiger jetzt, als hätte sie begriffen, dass sie zu weit gegangen war. »Sonst säßen wir hier nicht zusammen, ohne die Politik, oder?«
Ich betrachtete sie und zögerte etwas. »Nein«, sagte ich endlich. »Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Also dann«, sagte sie, öffnete ihre Tasche und holte ihr Zigarettenetui heraus, das ihr, kaum dass sie es in den Händen hielt, mit einem ungeheuren Lärm herunterfiel und aufsprang. Die Zigaretten verteilten sich über den Boden wie schon die Servietten, die ich kurz vor ihrer Ankunft hatte fallen lassen. »Ach, verdammt noch mal!«, rief sie und verblüffte mich damit. »Jetzt sehen Sie sich an, was ich da wieder angerichtet habe!«
Schon war Jane, unsere Kellnerin, bei uns und bückte sich, um beim Aufsammeln zu helfen, aber das hätte sie nicht tun sollen, denn Miss Bancroft hatte offenbar für heute die Nase voll und starrte sie so wütend an, dass ich fürchtete, sie werde gleich auf sie losgehen.
»Hör schon auf, Jane!«, fuhr sie die Kellnerin an. »Die kann ich selbst aufheben. Aber wenn wir vielleicht unseren Tee bekommen könnten? Bitte. Ist es zu viel verlangt, zwei Tassen Tee haben zu wollen?«
Das Servieren des Tees verschaffte uns eine kleine Erholung von unserer anstrengenden Unterhaltung und die Möglichkeit, uns mit etwas Unwichtigem zu beschäftigen, ohne zum Reden gezwungen zu sein. Marian war zweifellos höchst angespannt. In meiner Selbstbezogenheit hatte ich mich vor unserem Treffen mit kaum etwas anderem als meinem eigenen Verhältnis zu Will auseinandergesetzt, aber schließlich war er ihr Bruder. Und er war tot.
»Es tut mir leid, Mr Sadler«, sagte sie nach einem langen Schweigen, stellte ihre Tasse ab und lächelte mich
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