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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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informiert. Ich war eins von diesen Mädchen, die ich heute so verabscheue.«
    »Und was sind das für Mädchen?«, fragte ich.
    »Oh, Sie kennen sie, Tristan. Sie leben in London, und da sind sie überall. Ich meine, Himmel, als Sie in Ihrer schönen Uniform aus dem Krieg zurückgekommen sind, da ist Ihnen doch sicher einiges an … Gunst entgegengebracht worden.«
    Ich zuckte mit den Schultern, schüttete Tee nach, gab diesmal extra viel Zucker in meinen und rührte langsam um. Der Löffel verursachte einen Wirbel in der trüben braunen Flüssigkeit.
    »Diese jungen Frauen«, fuhr Marian mit einem verärgerten Seufzer fort, »sie denken, der Krieg sei ein Riesenspaß. Sie sehen ihre Brüder und Freunde die Uniform anziehen, und dann kommen sie zurück, und klar, da ist einiges ziemlich zerzaust, aber, oh, sehen sie nicht gut aus und so erfahren? Ich war genauso. Ich habe Wills Briefe gelesen und gedacht: Aber wenigstens bist du dabei! Was hätte ich dafür gegeben, dabei sein zu können! Ich hatte ja keine Ahnung, wie schwer es war. Und das habe ich wohl noch immer nicht.«
    »Und das stand alles in den Briefen?«, fragte ich in der Hoffnung, sie zurück zum Thema bringen zu können.
    »Nein, das habe ich erst hinterher richtig verstanden. Erst da habe ich die Grausamkeit erfasst. Weshalb mich der Ton meines Bruders seinerzeit auch ziemlich enttäuscht hat. Aber nach einer Weile wurden seine Briefe dann munterer, und das freute mich.«
    »Ach ja?«
    »Ja. In seinem dritten Brief schrieb er von dem Burschen, der das Bett neben seinem hatte. Ein Londoner, schrieb er, aber trotzdem kein schlechter Kerl.«
    Ich lächelte und nickte, sah in meinen Tee und hörte ihn die Worte in meinem Kopf sagen.
    Ach, Tristan …
    »Er schrieb, dass Sie und er viel zusammen seien, jeder jemanden zum Reden brauche, wenn er sich schlecht fühle, und Sie immer für ihn da seien. Das hat mich gefreut. Und freut mich heute noch. Und er schrieb, dass es alles leichter mache, weil Sie im gleichen Alter seien und wie er Ihr Zuhause vermissten.«
    »Er hat geschrieben, dass ich mein Zuhause vermisse?«, sagte ich und sah überrascht auf.
    Sie dachte einen Moment lang nach und verbesserte sich dann. »Er hat geschrieben, dass Sie nicht viel von zu Hause erzählen«, antwortete sie, »aber dass er sagen könne, dass Sie es vermissten. Er sah in Ihrem Schweigen etwas sehr Trauriges.«
    Ich schluckte und dachte darüber nach. Warum hatte er mich nie danach gefragt?
    »Und dann war da noch die Sache mit Mr Wolf«, sagte sie.
    »Oh, davon hat er Ihnen auch erzählt?«
    »Erst nicht. Aber später. Er schrieb, er habe einen faszinierenden Mann kennengelernt, der alle möglichen umstrittenen Ansichten vertrete. Und die hat er mir erläutert. Sie kennen sich da bestimmt besser aus, also brauche ich sie Ihnen nicht näher zu erklären.«
    »Nein.«
    »Aber ich spürte, dass er an Mr Wolfs Meinungen interessiert war, und als sie den armen Mann dann ermordet haben …«
    »Es wurde nie bewiesen, dass es Mord war«, sagte ich gereizt.
    »Glauben Sie, es war keiner?«
    »Ich weiß nur, dass es keinerlei Beweise gab«, sagte ich und war mir gleich bewusst, wie unsinnig meine Antwort war.
    »Nun, mein Bruder war davon überzeugt. Er sagte, offiziell sei von einem Unfall die Rede, doch er habe keinen Zweifel daran, dass sie den armen Kerl umgebracht hätten. Er schrieb, er wisse nicht, wer es gewesen sei, ob nun Sergeant Clayton, Links, Rechts, einer der Rekruten oder auch alle zusammen. Aber dass er umgebracht worden sei, da sei er sich sicher. Mitten in der Nacht hätten sie ihn geholt, schrieb er. Ich glaube, da hat er angefangen, sich zu verändern, Tristan. Mit Mr Wolfs Tod.«
    »Ja«, sagte ich. »In den Tagen sind so viele Dinge geschehen. Wir standen unter enormem Druck.«
    »Danach war der sorglose Junge, den ich gekannt hatte, obwohl er natürlich auch Angst gehabt hatte vor dem, was da vor ihm lag, dieser Junge war verschwunden, und ein anderer schrieb mir Briefe, einer, der lieber über Richtig und Falsch als über Rechts und Links reden wollte.« Sie lächelte über ihren Witz, wurde aber gleich wieder ernst. »Er wollte wissen, was die Zeitungen über den Krieg schrieben, was im Parlament debattiert wurde und ob es jemanden gebe, der für die Menschenrechte eintrete, wie er es nannte, einen, der sich trotz des Kriegslärms Gehör verschaffen könne. Ich erkannte ihn in diesen Briefen nicht wieder, Tristan. Aber seine Verwandlung faszinierte mich,

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