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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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anderer Mensch. Es ist schwer zu erklären. Wir kennen uns seit unserem fünfzehnten, sechzehnten Lebensjahr und waren immer ineinander verliebt. Vor allem ich in ihn. Er war mit einer Freundin von mir verbunden, so wie man das in dem Alter eben schon sein kann.«
    »Alles ist ein heilloses Durcheinander in dem Alter.«
    »Ja, da haben Sie wohl recht. Auf jeden Fall hat er das andere Mädchen meinetwegen verlassen, was zu fürchterlichen Auseinandersetzungen zwischen unseren Familien geführt hat. Und das Mädchen, das wirklich eine gute Freundin von mir gewesen war, hat nie wieder ein Wort mit mir gesprochen. Es war so ein Skandal. Heute schäme ich mich, wenn ich daran zurückdenke, aber wir waren jung, und es lohnt nicht, schlaflose Nächte deswegen zu verbringen. Tatsache ist, dass ich verrückt nach ihm war.«
    »Aber Sie scheinen so gar nicht zusammenzupassen«, sagte ich.
    »Sie kennen ihn nicht. Heute sind wir verschieden, ja, wobei wir uns alle verändert haben, nehme ich an. Aber eine Zeit lang waren wir glücklich, und da hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten will, und ich habe Ja gesagt. Jetzt kann ich mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen.«
    Ich dachte darüber nach, sagte aber nichts. Ich wusste zu wenig über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die Intimitäten, die sie miteinander verbanden, und die Geheimnisse, die sie wieder auseinandertreiben konnten. Sylvia Carter war meine einzige Erfahrung, was das betraf, und es schien kaum vorstellbar, dass ein Kuss, der sechs Jahre zurücklag, für mich bereits das Ende bedeuten konnte, aber so war es natürlich.
    »War er drüben?«, fragte ich. Er musste so alt wie Marian sein, dachte ich, ein paar Jahre älter als ich. »Leonard, meine ich.«
    »Nein, er konnte nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Er ist fürchterlich kurzsichtig, wissen Sie. Mit sechzehn hatte er einen Unfall. Da ist er von seinem Fahrrad gefallen, der Trottel, und mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen. Sie haben ihn bewusstlos auf der Straße gefunden, und als sie ihn endlich beim Arzt hatten, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Das Ende vom Lied war dann, dass ein paar der Bänder in den Augen nicht mehr richtig wollten. Auf dem rechten Auge ist er so gut wie blind, und auch das linke macht ihm schreckliche Schwierigkeiten. Natürlich hasst er das, obwohl sie nie merken würden, dass da was nicht stimmt, wenn Sie ihn einfach so ansehen.«
    »Kein Wunder, dass er meine Nase verfehlt hat«, sagte ich und versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Marian schien es genauso zu gehen. »Ich habe ihn vorhin schon gesehen«, fügte ich hinzu. »Im Café, meine ich. Er hat uns beobachtet, und als ich zur Toilette ging, wollte er mich in ein Gespräch verwickeln.«
    »Hätte ich gewusst, dass er da ist, wäre ich gleich wieder gegangen«, sagte sie. »Er verfolgt mich und versucht, alles wieder einzurenken. Es ist ermüdend.«
    »Und wegen seiner Augen haben sie ihn nicht genommen?«
    »Genau«, sagte sie, »und es hat ihn fürchterlich mitgenommen. Ich glaube, er hatte das Gefühl, kein richtiger Mann zu sein. Von seinen Brüdern, er hatte vier, haben sich zwei noch vor 1916 gemeldet, und die beiden anderen, die jüngeren, sind dann nach dem Derby Scheme Soldat geworden. Nur einer ist lebend zurückgekommen, und der ist sehr krank. Er hatte eine Art Zusammenbruch, glaube ich, und ist die meiste Zeit zu Hause. Seine Eltern müssen es schwer mit ihm haben, was mich verdrießt. Jedenfalls weiß ich, dass sich Leonard schrecklich fühlt, weil er nicht mitkämpfen konnte. Er ist ziemlich mutig, wissen Sie, und ein schrecklicher Patriot. Es war schlimm für ihn, als alle loszogen, und er als einziger junger Mann hier in der Stadt bleiben musste.«
    »Es war schlimm für ihn?«, fragte ich irritiert. »Ich würde es eher für ein großes Glück halten.«
    »Ich verstehe ja, warum Sie das sagen«, stimmte sie mir zu, »aber versuchen Sie, es einmal von seinem Standpunkt aus zu sehen. Er wollte mit euch allen drüben in Frankreich sein und nicht hier in Norwich mit einem Haufen Frauen festsitzen. Und dann seid ihr zurückgekommen, und jetzt passt er nicht mehr zu euch. Ich habe ihn allein in der Ecke des Pubs sitzen sehen, nicht zwischen den anderen, mit denen er früher gemeinsam die Schulbank gedrückt hat. Wie sollte es auch anders sein? Ihm fehlen ihre Erfahrungen, er weiß nicht, was sie durchgemacht haben. Ein paar von ihnen haben wohl versucht, ihn mit einzubeziehen,

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