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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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meine Richtung geflogen kommt, gegen meine Brust schlägt und mich fast umwirft. Doch obwohl er mir den Atem nimmt, drehe ich mich schnell mit ihm zur Wand, werfe ihn an die Stelle, wo ich ihren unteren Rand vermute, drehe mich nach dem nächsten Sack um, fange ihn, packe ihn vor die Wand, fange den nächsten, den nächsten, den nächsten. Wir sind jetzt fünf oder sechs, die alle das Gleiche tun, wir stapeln die Sandsäcke hoch auf und schreien nach mehr, bevor die ganze verdammte Konstruktion um uns herum zusammenbricht. Wie der Versuch eines Irren kommt mir die Aktion vor, aber irgendwie funktioniert es, und dann ist es geschafft, und wir vergessen, dass wir heute beinahe gestorben wären, und warten darauf, morgen zu sterben.
    Die Deutschen benutzen Beton. Wir benutzen Holz und Erde.
    Es regnet seit Tagen. Die endlose Sturzflut lässt die Gräben zu Schweinetrögen werden, die doch unsere Verteidigungsstellungen sind, die Deckung, aus der unser Regiment seine sporadischen Angriffe vorträgt. Bei unserer Ankunft hieß es, der kalkhaltige Boden der Picardie, durch den wir uns seit Tagen vorankämpfen, breche weniger schnell ein als die übrigen Bereiche des Frontverlaufs, besonders die elenden Felder in Richtung Belgien, wo die hohen Moore Schanzanlagen fast unmöglich machen. Trotzdem kann ich mir kaum einen schlimmeren Ort als unseren hier vorstellen. Wobei ich nur aufgrund der meist hinter vorgehaltener Hand sich ausbreitenden Gerüchte Vergleiche anstellen kann.
    Das, was am Morgen um mich herum noch ein begehbarer Pfad war, hat sich in einen Schlammstrom verwandelt. Pumpen kommen, und drei der Männer setzen sie in Gang. Wells brüllt uns allen etwas zu, mit rauer Stimme, die in der Flut der Elemente verloren geht. Ich starre ihn an und könnte loslachen, gepackt von ungläubiger Hysterie.
    »Verdammte Scheiße, Sadler!«, schreit er jetzt, und ich schüttele den Kopf, um ihm klarzumachen, dass ich seinen Befehl nicht verstanden habe. »Los doch!«, brüllt er. »Los doch, oder ich begrab Sie im Dreck!«
    Über meinem Kopf, über dem Wall, höre ich, wie das Granatfeuer neu einsetzt, noch verhalten wie eine Art Vorspiel und nicht annähernd so schwer wie während der letzten paar Tage. Die deutschen Gräben verlaufen etwa dreihundert Meter nördlich von uns. An ruhigen Abenden können wir das Echo ihrer Gespräche hören. Gelegentliches Singen, Lachen, Wutschreie. Wir sind gar nicht so verschieden, die und wir. Wenn beide Armeen im Schlamm ersaufen, wer bleibt dann noch, um den Krieg zu führen?
    »Hier, hier!«, schreit Wells, packt mich am Arm und zerrt mich zu Parks, Hobbs und Denchley, die sich mit den Pumpen abmühen. »Da liegen Eimer, Mann!«, schreit er. »Das alles hier muss trockengelegt werden!«
    Ich nicke schnell und sehe mich um. Rechts von mir entdecke ich zwei graue Blecheimer von der Art, wie sie normalerweise hinten bei den Latrinen stehen. Yates hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie so sauber wie nur möglich zu halten. Seine Besessenheit in Sachen Hygiene hat etwas Psychotisches. Was zum Teufel machen die Eimer jetzt hier?, frage ich mich und starre sie an. Yates rastet aus, wenn er sie hier so liegen sieht. Hergeschwemmt worden sein können sie nicht, denn zwischen dem hinteren und dem vorderen Graben liegt noch der Unterstützungsgraben, und beide sind knapp zweieinhalb Meter tief. Wer immer sie an ihren Platz zurückbringen sollte, muss unterwegs getroffen worden sein. Wenn die Eimer hier zu meinen Füßen liegen, liegt der, der sie getragen hat, ein Stück über mir, auf dem Rücken, mit glasigen Augen in den finsteren nordfranzösischen Himmel hinaufstarrend, und sein Körper wird kalt, hart und frei. Es muss Yates sein, begreife ich jetzt. Natürlich, Yates ist tot, und unsere Latrinen werden bald schon verdrecken.
    »Was ist los mit Ihnen, Sadler?«, schreit Wells, und ich drehe mich zu ihm hin und entschuldige mich, während ich mich bereits nach den Eimern bücke. Meine Hände sind voller Scheiße, kaum dass ich die Henkel zu fassen bekomme, aber was macht das, denke ich, was macht das schon? Während ich den einen vor mich hinstelle, fasse ich den anderen oben am Rand und am Boden und schöpfe ein paar Liter Wasser vom Boden. Ich sehe über mich, prüfe, ob da nichts ist, und schleudere den triefenden Dreck mit dem Wind nach Nordosten, Richtung Berlin. Ich beobachte, wie die trübe Suppe über den Rand fliegt. Landet sie auf ihm?, frage ich mich. Landet sie auf Yates? Dem

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