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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Ausdruck angestarrt, den ich nicht von ihm kannte. Einer Art Verwunderung über das, was wir getan hatten, verstärkt noch durch die Unmöglichkeit, abstreiten zu können, dass er nicht nur freiwillig mitgemacht, sondern die treibende Kraft gewesen war. Er wollte mir die Schuld geben, das konnte ich sehen, doch das ging nicht. Wir wussten beide, wie es angefangen hatte.
    »Will«, fing ich an, aber er schüttelte den Kopf und wollte die Böschung hinaufklettern, die uns umgab, stolperte in seiner Eile aber und rutschte zurück, bevor er erneut festen Tritt fand. »Will«, sagte ich noch einmal und streckte die Hand nach ihm aus, aber er schüttelte mich unwirsch ab, fuhr herum und starrte mich mit verzerrtem Ausdruck an, ein Wolf, bereit zum Angriff.
    »Nein«, zischte er und verschwand über die Böschung in die Nacht.
    Als ich in unsere Schlafbaracke kam, lag er bereits auf seinem Bett und hielt mir den Rücken zugekehrt. Ich wusste, dass er noch wach war. Sein Oberkörper hob und senkte sich auf kontrollierte Weise, und sein Atem ging schwerer als sonst. Es war das Atmen eines Mannes, der den Eindruck erwecken wollte, dass er schlief, aber nicht das Talent hatte, dabei überzeugend zu wirken.
    Und so legte auch ich mich schlafen und war sicher, dass wir morgens reden würden, aber als ich erwachte, war er bereits aufgestanden, noch bevor Wells und Moody die Glocke geläutet hatten.
    Draußen dann, nach dem Appell, absolvierte er unseren letzten Marsch weit vor mir unter all den anderen, wo es ihm für gewöhnlich viel zu eng war, von einem Schutzwall frischgebackener Soldaten umgeben, um sich von mir abzuschotten.
    Im Zug gab es auch keine Möglichkeit mit ihm zu reden. Er hatte sich einen Fensterplatz ausgesucht, mitten im gröhlenden Pöbel, und ich hielt mich ein Stück entfernt, verwirrt und aufgewühlt durch seine klare Zurückweisung. Erst viel später, abends auf der Überfahrt nach Calais, fand ich ihn allein an der Reling. Seine Hände umschlossen das eiserne Geländer, und er hielt tief in Gedanken den Kopf gesenkt. Selbst aus der Entfernung konnte ich spüren, wie es ihn quälte. Ich wäre wohl nicht zu ihm gegangen, wäre ich nicht überzeugt gewesen, dass das jetzt vielleicht unsere letzte Gelegenheit war, denn wer wusste schon, was für Schrecken vor uns lagen, wenn wir das Schiff verließen?
    Der Klang meiner Schritte machte ihn auf meine Gegenwart aufmerksam. Er hob den Kopf etwas an und öffnete die Augen, drehte sich aber nicht um. Er wusste, dass ich es war. Ich hielt ein Stück Abstand, sah Richtung Frankreich, holte eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an, bevor ich das halb volle Päckchen in seine Richtung hielt.
    Erst schüttelte er den Kopf, überlegte es sich dann aber anders und nahm eine. Als er sie sich zwischen die Lippen schob, wollte ich ihm meine reichen, damit er seine damit anstecken konnte, aber er schüttelte den Kopf und grub in seinen Taschen nach einem Streichholz.
    »Hast du Angst?«, fragte ich nach langem Schweigen.
    »Natürlich«, antwortete er. »Du nicht?«
    »Doch.«
    Wir rauchten unsere Zigaretten und waren dankbar, dass wir sie hatten, befreiten sie uns doch von dem Zwang zu reden. Endlich wandte er sich mir zu, bekümmert, zaghaft, sah auf seine Stiefel, die Brauen zusammengezogen.
    »Hör zu, Sadler«, sagte er. »Es ist nicht richtig. Das weißt du doch?«
    »Sicher.«
    »Es wäre …« Er zögerte und setzte noch einmal neu an. »Das Problem ist, dass wir alle nicht mehr klar denken können. Dieser verfluchte Krieg. Ich wünschte, es wäre alles vorbei. Wir sind noch nicht mal da, und ich wünsche mir schon, dass es vorbei wäre.«
    »Bedauerst du es?«, fragte ich leise, und sein Ausdruck nahm eine aggressivere Note an.
    »Bedauere ich was?«
    »Du weißt schon.«
    »Das habe ich doch gesagt, oder? Es ist nicht richtig. Lass uns so tun, als wäre es nie passiert. Ist es ja auch nicht wirklich, wenn du darüber nachdenkst. Es zählt nicht, solange es nicht, du weißt schon … mit einem Mädchen ist.«
    Ich lachte, schnell und ungewollt. »Natürlich zählt es, Will«, sagte ich und trat einen Schritt auf ihn zu. »Und warum nennst du mich plötzlich Sadler?«
    »So heißt du nun mal.«
    »Ich heiße Tristan. Du warst doch derjenige, der immer gesagt hat, dass du es hasst, wie wir hier bei unseren Nachnamen genannt werden. Du hast gesagt, es entmenschlicht uns.«
    »Das tut’s auch«, antwortete er barsch. »Wir sind keine Menschen mehr.«
    »Aber

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