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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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verläuft ein eingetrocknetes Rinnsal Blut, das mich an die Themse erinnert, die sich südlich Richtung Greenwich Pier schlängelt (seine Braue), dann nördlich zur London Bridge (die Mitte seiner Stirn) und schließlich in den Tiefen von Blackfriars verschwindet (in seinem zottigen, verlausten Haar). Ich sage nichts dazu, wir verstehen uns nicht besonders.
    »Hast du Wache, Sadler?«, fragt er mich.
    »In zwanzig Minuten.«
    »Bin gerade fertig. Essen und Schlaf, das brauche ich jetzt.«
    »Ich wollte später in den Pub«, sage ich zu ihm. »Ein paar Glas Bier trinken und etwas Darts spielen. Hast du Lust?«
    Er antwortet nicht und tut so, als hätte er mich nicht gehört. Wir sagen hier alle solche Dinge, und manchmal haben wir unseren Spaß dabei, aber Shields scheint im Moment nicht interessiert. Er biegt ab, als wir Glover’s Alley erreichen, die nach Pleasant Way führt, der sich am Ende teilt und rechts zur Pilgrim’s Repose wird. Wir vegetieren hier wie lebende Tote und treiben Straßen in die Erde, denen wir Namen geben. Wir errichten Schilder und verschaffen uns so die Illusion, immer noch Teil der Menschheit zu sein. Wir laufen durch ein Labyrinth, die Gräben teilen sich in zahllose Richtungen, verbinden Pfade, schneiden sie und schaffen sichere Durchgänge zu anderen. Wer nicht genau weiß, wohin er geht, kann sich leicht verirren, und Gott helfe dem Mann, der nicht ist, wo er sein soll, wenn er dort zu sein hat.
    Ich verlasse den vorderen Graben und biege in den Unterstützungsgraben, wo unsere spärliche medizinische Versorgung untergebracht ist und es ein paar Pritschen für die Offiziere gibt. Von hier aus kann ich bereits Essensgerüche wahrnehmen und eile zielstrebig darauf zu. Ich sehe mich im schlecht instand gehaltenen Messegraben um, entlang des nach Südwesten verlaufenden, in dritter Reihe liegenden Pfades, und erkenne hauptsächlich bekannte Gesichter, manche sind neu. Einige Männer sagen nichts, andere reden ständig, einige sind mutig, einige dumm, andere sind kurz davor, verrückt zu werden. Einige kommen aus Aldershot, wo sie vor oder nach uns waren, einige haben schottische Akzente, andere englische oder irische. Ich bewege mich durch leises Gemurmel, höre hier und da einen Gruß und nehme den Helm ab, als ich die Messe erreiche. Ich kratze mir den Kopf, ohne mir die Mühe zu machen nachzusehen, was dabei unter meinen Nägeln landet. Meine Kopfhaut ist voller Läuse, und auch in den Achseln und zwischen den Beinen nisten sie und pflanzen sich fort. Überall, wo sie günstige Bedingungen vorfinden. Erst haben sie mich angewidert, aber mittlerweile denke ich nicht mehr an sie. Ich bin ein großzügiger Gastgeber, wir leben friedlich miteinander. Sie nisten in meiner verdreckten Haut, und ich pflücke sie gelegentlich weg und zerquetsche sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
    Ich nehme, was ich bekommen kann, und esse schnell. Der Tee ist überraschend gut. Sie müssen ihn gerade frisch gekocht haben, und er ruft eine Erinnerung in mir wach. Wenn ich mich auf sie konzentrieren würde, könnte ich sie sicher zum Leben erwecken, aber mir fehlt die Energie und das Interesse. Die Rinderpastete schmeckt grässlich. Gott allein weiß, was sie in die Dosen zwingen. Vielleicht ist es Dachs oder Ratte oder irgendein anderes Getier, das die Unverfrorenheit besitzt, hier noch weiterexistieren zu wollen. Wir nennen es Rind und sind damit zufrieden.
    Ich zwinge mich dazu, mich nicht umzusehen, nicht nach ihm zu suchen, denn das bedeutet nur Schmerz. Wenn ich ihn sehe, habe ich zu viel Angst, mich ihm zu nähern, Angst, zurückgewiesen zu werden, und es besteht die ernsthafte Gefahr, dass ich in meiner Wut später über die Deckung laufe, hinein ins Niemandsland und das, was mich dort erwartet. Und wenn ich ihn nicht sehe, rede ich mir ein, dass sie ihn erwischt haben, und ich laufe trotzdem los, ein leichtes Ziel für die Scharfschützen, denn wofür lohnt es weiterzumachen, wenn er es nicht mehr tut?
    Am Ende, mit dem Essen im Magen und dem Teegeschmack im Mund, stehe ich auf, gehe zurück und gratuliere mir. Weil ich nicht nach ihm Ausschau gehalten habe, nicht ein einziges Mal den Blick habe schweifen lassen. Solche Momente lassen sich zu halb glücklichen Stunden aneinanderreihen.
    Als ich zurück in den vorderen Graben komme, höre ich vor mir eine Auseinandersetzung, und wenn ich an derlei Dingen auch nicht interessiert bin, muss ich doch am Ort des Geschehens vorbei, bleibe kurz stehen und

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