Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Horizont reichende Meer aus Männern und Frauen und sah all die Kinder auf den Schultern ihrer Väter, die sich, ganz dem Rausch des Augenblicks hingegeben, gegenseitig angrinsten.
»Sadler!«, schreit der mit Stiefeln und Helm über zwei Meter große Potter und reißt mich an der Schulter tiefer in den Graben. »Was zum Teufel ist denn mit dir los? Halt deinen verdammten Kopf aus den Wolken!«
»Tut mir leid«, sage ich, bringe das Periskop zurück in die richtige Stellung und lasse den Blick über das Gelände vor uns gleiten. Ich bin voller Panik, dass sich da plötzlich, weil ich nicht aufgepasst habe, ein Trupp von zwanzig Deutschen auf den Bäuchen heranschlängelt und es zu spät ist, Alarm zu schlagen, aber nein, alles ist friedlich, und trotz des Höllenfeuers am Himmel liegt das Stück Land leer und verlassen da, das die beiden Gruppen verängstigter junger Männer von den gegenüberliegenden Seiten der Nordsee voneinander trennt.
»Lass dich bloß nicht vom Alten beim Träumen erwischen«, sagt Potter, steckt sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug und reibt sich die Arme gegen die Kälte. »Und steck deinen Kopf da noch mal zu weit raus, und ich verspreche dir, Fritz wird ihn dir ohne zu zögern wegblasen.«
»Aus der Entfernung treffen sie mich nicht.«
»Willst du’s ernsthaft probieren?«
Ich lasse einen gereizten Seufzer hören. Potter und ich sind nicht unbedingt Freunde. Seine Beliebtheit ist mit der Pflege seines parodistischen Talents angewachsen, und mittlerweile hört er nur noch auf sich selbst. Er ist keineswegs ranghöher als ich, scheint sich aber so zu fühlen, weil er irgendwo in seiner Ahnentafel einen verirrten Duke aufzuweisen hat und ich, wie er immer wieder betont, von Händlern abstamme.
»Ist ja gut, Potter«, sage ich. »Ich halte den Kopf schon unten, aber dein infernalisches Geschrei ist auch nicht unbedingt hilfreich.«
Ich wende mich wieder der Inspektion des Horizontes zu. Ich bin sicher, da draußen etwas zu hören, aber alles scheint ruhig zu sein. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl, so friedlich es dort auch aussieht.
»Ich rede, wann ich reden will, Sadler!«, fährt Potter mich an, »und lasse mir von deinesgleichen nichts vorschreiben.«
»Von meinesgleichen?«, frage ich und sehe ihn an. Ich bin heute Abend nicht in der Stimmung für solchen Unsinn.
»Ihr seid doch alle gleich. Ihr habt doch auch nicht so viel Verstand im Kopf.«
»Dein Vater ist Schreiner, Potter«, sage ich, weil ich gehört habe, dass er einen Holzhandel in Hammersmith betreibt. »Das macht dich nicht gleich zum Herrgott persönlich.«
»Lästere nicht, Sadler«, sagt Potter wütend und richtet sich vor mir zu seiner vollen Größe auf, sodass sein eigener Kopf nun oben aus dem Graben ragt, worüber er sich bei mir gerade noch so aufgeregt hat. Er hebt die Zigarette an, und die rot glühende Spitze wird über der Brustwehr sichtbar. Ich keuche erschrocken auf.
»Potter, deine Zigarette …«
Er dreht sich, begreift, was er da macht, und schon werde ich geblendet und habe das Gefühl, dass mir jemand einen Eimer heißen Schleim ins Gesicht geschleudert hat. Ich spucke, blinzele, übergebe mich, werfe mich auf den Boden, reibe mir aus den Augen, was immer mich da getroffen hat, und sehe Potter vor meinen Füßen liegen. Er hat ein großes Loch im Kopf, wo die Kugel in ihn eingetreten ist, ein Auge ist komplett weg – und klebt auf mir, denke ich –, das andere hängt nutzlos aus seiner Höhle.
Das Granatfeuer in dreißig Meilen Entfernung scheint lauter zu werden, und ich schließe einen Moment lang die Augen und wünsche mich an einen anderen Ort. Ich höre die Stimme der Frau, die meinem Vater Vorhaltungen macht, weil er mich geschlagen hat, vor fünf Jahren, am Abend der Krönung. »Der Junge hat doch nichts getan«, sagt sie. »Sie sollten lernen, ihm etwas Güte entgegenzubringen.«
Die Wochen vergehen. Wir rücken vor, wir graben uns ein, wir schießen mit unseren Smilers, decken den Feind mit Granaten ein, und nichts scheint sich zu ändern. Einmal hören wir, wir sind auf dem Vormarsch und es wird nicht mehr lange dauern, dann wieder heißt es, es sieht bitter aus und wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen. Mein Körper gehört nicht mehr mir allein: Die Läuse teilen ihn sich mit Ratten und anderem Ungeziefer, für die er eine Art Nageknochen ist. Ich tröste mich damit, dass ich mich hier auf dem natürlichen Terrain all dieses Getiers befinde, was
Weitere Kostenlose Bücher