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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Ungerechtigkeiten in diesem Land anfange, die wir letztendlich alle kritiklos hinnehmen, sitzen wir hier noch den ganzen Nachmittag.«
    »Ich bin nicht in Eile«, sagte ich, und sie schien meine Haltung zu schätzen, denn sie lächelte mich an, langte über den Tisch, um auf meine Hand zu klopfen, und ließ ihre etwas länger darauf liegen als nötig.
    »Stimmt was nicht?«, fragte sie mich einen Augenblick später.
    »Nein«, sagte ich und zog meine Hand zurück. »Warum fragen Sie?«
    »Sie wirken mit einem Mal etwas durcheinander.«
    Ich schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Die Berührung ihrer Hand hatte die Erinnerung an Will so stark in mir lebendig werden lassen, dass ich ziemlich überwältigt war. Ich konnte auch in ihrem Gesicht viel von ihm entdecken. Ihr ganzer Ausdruck und die Art, wie sie den Kopf manchmal wandte und lächelte, die Grübchen, die sich plötzlich auf ihren Wangen zeigten, all das erinnerte mich an ihn. Allerdings hatte ich bisher nicht gewusst, dass auch eine Berührung etwas Familienspezifisches sein konnte. Oder bildete ich mir das nur ein? Schrieb ich ihr das bloß zu, aus dem Wunsch heraus, mich Will nahe zu fühlen und wiedergutzumachen, was ich getan hatte?
    »Es muss eine sehr dankbare Aufgabe sein«, sagte ich schließlich und wandte mich ihr wieder zu.
    »Was?«
    »Den Soldaten zu helfen. Denen, die noch darunter zu leiden haben.«
    »Das sollte man denken, nicht wahr?«, antwortete sie. »Hören Sie, es ist schrecklich, das zu sagen, aber ich empfinde einen solchen Groll gegenüber vielen von ihnen. Ist das zu verstehen? Wenn sie davon reden, was sie durchgemacht haben, von dem Gemeinschaftsgefühl erzählen und dem Kameradentum, dann könnte ich manchmal so laut schreien, dass ich den Raum verlassen muss.«
    »Aber es gab dieses Gefühl«, sagte ich. »Warum wollen Sie das nicht glauben? Die Kameradschaft war manchmal so stark, dass sie fast etwas Erdrückendes hatte.«
    »Und wo war diese Kameradschaft, als sie meinem Bruder das angetan haben?«, fuhr sie mich mit der gleichen Wut an, die sie, wie ich mir vorstellte, auch dazu zwang, aus dem Behandlungszimmer zu laufen, um nicht zu explodieren. »Wo war die Kameradschaft, als sie ihn an die Wand gestellt und ihre Gewehre auf ihn gerichtet haben?«
    »Bitte nicht«, bettelte ich und legte eine Hand auf die Augen, weil ich hoffte, so die Bilder vertreiben zu können. »Bitte, Marian.« Ihre Fragen riefen schreckliche Erinnerungen in mir wach, die tief in mein Innerstes schnitten.
    »Entschuldigung«, sagte sie leise und schien überrascht, wie heftig ich auf ihre Fragen reagierte. »Aber Sie können mir nicht vorwerfen, dass ich den Eindruck habe, unter den sogenannten Kameraden werde oft mit zweierlei Maß gemessen. Wobei es sowieso keinen Sinn hat, das weiterzuverfolgen. Sie haben bis zum Ende zu ihm gehalten, das weiß ich. Ich sehe doch, wie sehr es sie mitnimmt, wenn ich auf seinen Tod zu sprechen komme. Sie waren ja Freunde. Sagen Sie, hat sich das schnell zwischen Ihnen entwickelt?«
    »Ja«, sagte ich, und diese Erinnerung tat gut. »Ja, ich glaube, wir hatten einen ähnlichen Sinn für Humor. Und unsere Betten standen nebeneinander, da haben wir natürlich eine Allianz gebildet.«
    »Sie Ärmster«, sagte sie.
    »Warum?«
    »Weil mein Bruder ja vieles gewesen sein mag«, sagte sie, »aber eine gepflegte Person ganz gewiss nicht. Ich weiß noch, wie es war, wenn ich morgens in sein Zimmer kam, um ihn zu wecken, und fast umfiel, so stank es darin. Was ist das bloß mit euch Männern und euren schrecklichen Gerüchen?«
    Ich lachte. »Davon weiß ich nichts«, sagte ich. »Ich meine, wir waren zwanzig in einem Raum. Besonders hygienisch ging es da sicher nicht zu. Und Links und Rechts, wie Sie die beiden nennen, haben nur darauf geachtet, dass unsere Betten in Ordnung waren. Aber ja, wir haben uns schnell angefreundet.«
    »Und wie war er?«, fragte sie. »In den ersten Tagen, meine ich. Schien er glücklich, dort zu sein?«
    »Ich weiß nicht, ob er so dachte«, sagte ich und hing ihrer Frage nach. »Es war wohl mehr so, dass dies nun die nächste Phase in seinem Leben sein würde, die er hinter sich bringen musste. Für einige der Älteren, glaube ich, war es schwieriger als für uns. So dumm es im Nachhinein auch klingen mag, aber zu Anfang kam es uns noch wie ein großes Abenteuer vor.«
    »Ja, ich habe schon andere exakt das Gleiche sagen hören«, erwiderte Marian. »Einige der Männer, mit denen ich

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