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Das spanische Medaillon

Das spanische Medaillon

Titel: Das spanische Medaillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Wolf
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Speisesaales blickte, der auch ich inzwischen rasend vor Neugier zustrebte, wandte sich ab und suchte sich vom Gesehenen wieder zu befreien, entweder durch Wehklagen oder Schreikrampf, Ohnmacht oder schiere Unpässlichkeit.
    »Zurück«, schrie jetzt einer – es war Jahn –, »zurück! Macht euch nicht unglücklich! Behaltet sie so in Erinnerung, wie ihr sie kanntet! Die Polizei wird gleich da sein, man hat schon nach ihr geschickt. Lasst ab, lasst nach! Ruhe und Besonnenheit seien des Deutschen Haupttugend!«
    Er hatte sich mit ausgebreiteten Armen vor der Tür aufgebaut, doch gegen die Gewalt des Andranges kam er nicht an. Langsam schob ihn die Menge aus dem Weg. Eine solche Meute ist nicht zu stoppen! Die Figuren vor mir knickten seitlich weg und plötzlich stand ich im Türrahmen, wurde gar noch durch einen verirrten, abgerutschten Arm aus dem Gedränge hineingestoßen! Es war das Büro der Hausherrin, deren Körper vor mir auf einem Tisch lag. Es sah zunächst so aus, als wäre sie rücklings darauf eingeschlafen, die Arme angewinkelt, die Hände hinterm Kopf verschränkt.
    Ich roch das Blut, bevor ich es sah. Wohl hatte ich die Augen sperrangelweit aufgerissen und erblickte im ersten Moment vor Aufregung nichts als die liegende Gestalt. Es verging eine Sekunde, bis mir bewusst wurde, dass die großen roten Flecken vis-à-vis nicht Bestandteil des Wandbehanges waren. Die Farben einer Tapete tropfen für gewöhnlich nicht zu Boden.
    Ich sah nach rechts zur Seite und gewahrte einen großen ovalen Toilettenspiegel. Schau hinein! , musste ich mir selbst befehlen, doch es kostete mich die allergrößte Überwindung, es auch tatsächlich zu tun, denn die Stellung der Spiegelfläche und meine Position relativ zu ihr mussten mir zwangsläufig zeigen, was dem unmittelbaren Blick durch den Tisch verstellt war.
    »Treten Sie zurück, Madame!«, hörte ich eine mir bereits vertraute Stimme, doch die Ohren verrichteten ihren Dienst nurmehr mechanisch. Das Gehörte drang nicht bis in meinen Verstand.
    Das Bild im Oval des Spiegelglases war so grauenhaft, dass es mir die Nervenbahnen lähmte. Madame Bernards Kleid hatte ein dunkles Mauve, ihre Bluse war weiß gewesen. Nun sah ich Reste des weißen Kragens mit einem Innensaum aus Blut, doch keinen Kopf. Die Hände, von denen ich angenommen, sie bildeten eine Schüssel hinter dem Kopf, waren ebenfalls nicht mehr vollständig. Bares, gehacktes Menschenfleisch, nicht anders als ein Stück beim Metzger, schimmerte an der Stelle, wo das Haupt vom Rumpf abgetrennt worden war. Es war das gleiche Bild, wie ich es schon in Deetz gesehen hatte, und doch so unsagbar grauenhaft verstärkt durch die Umgebung und durch die Tatsache, dass hier ein zartes weibliches Wesen lag und kein robustes Mannsbild. Am Boden sah ich rote Stummel – es waren die abgeschlagenen Fingerglieder.
    »Madame! Ich bitte Sie, kommen Sie!«, drang wieder die Stimme aus unendlicher Weite, wie mir schien, heran.
    Ich nahm das Bild in mich auf, als sollte ich es aus dem Gedächtnis malen. Am Boden hellrosafarbene, kirschhölzerne Dielen mit dunklen, fast schwarzen Flecken des vergossenen Lebenssaftes darauf. In einer Lache ein Abdruck: der Fußabdruck des Mörders!
    »Bleiben Sie stehen und sehen Sie sich den Fußboden an!«, sagte ich zu dem Mann, der mich sanft an der Schulter gefasst hatte und nach draußen führen wollte – es war der Kriminaldirektor in spe von Schlechtendal.
    »Helmbrecht! Maß nehmen! Aufzeichnen!«, befahl er schlicht, während wir vorsichtig rückwärts gingen.
    Die Spur war noch einige Meter weit nach draußen zu verfolgen, dann wurde sie unsichtbar. Inzwischen waren die Schaulustigen aus dem Korridor komplimentiert und selbiger geschlossen worden. Jérôme stand als einziger Nichtpolizist an der Tür, als wir heraustraten, die Augen auf den Boden geheftet. Von Schlechtendal fragte mehrmals nach meinem Befinden, doch ich war innerlich so sehr mit dem aufgenommenen Bild beschäftigt, dass ich ihm keine Antwort gab. Stattdessen sagte ich schließlich, damit zugleich alle Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit beiseiteräumend:
    »Sie hatte die Hände an den Hals gelegt, als ringe sie nach Luft. Das Scheusal hat ihr etwas verabreicht, das sie bewegungsunfähig und willenlos machte und zugleich das Atmen erschwerte – vielleicht Mandragora? Er hat nicht gewartet, sondern sogleich zugeschlagen. Der Kopf im Schlepptau muss doch den beiden Türstehern aufgefallen sein!«
    Jérôme stützte

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