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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Rückseite des Handgelenks. Die weiche Innenseite war nach oben gekehrt, und Jessie betrachtete fasziniert, wie der tiefe Schnitt über die Glückslinien den schwarzroten Mund weit aufsperrte und zu lachen schien. Sie trieb die Glasscherbe so tief in den Handrücken, wie sie sich traute, während sie immer noch gegen den Krampf in Leibesmitte und Brust ankämpfte, und dann riss sie die Hand zu sich her, so dass ein feiner Nebel aus Blutströpfchen sich auf ihrer Stirn, den Wangen und dem Nasenrücken niederschlug. Die Glasscherbe, mit der sie diesen rudimentären chirurgischen Eingriff ausgeführt hatte, trudelte auf den Boden, und dort zerschellte der Gnomenkrummsäbel. Jessie verschwendete keinen Gedanken mehr daran; er hatte seine Schuldigkeit getan. Ihr blieb noch ein Schritt, nämlich eines festzustellen: ob die Handschelle sie weiter in ihrem eifersüchtigen Griff behalten würde oder ob Fleisch und Blut als Mitverschwörer nicht endlich imstande sein würden, sie zu lösen.
    Der Krampf in Jessies Seite bäumte sich ein letztes Mal auf, dann ließ er nach. Sie bemerkte sein Abklingen ebenso wenig wie den Verlust des primitiven Skalpells aus Glas. Sie konnte die Gewalt ihrer Konzentration spüren – ihr Denken schien förmlich wie eine mit Pinienharz getränkte Fackel zu brennen -, und diese gesamte Konzentration war auf die rechte Hand fixiert. Sie hielt sie hoch und betrachtete sie im goldenen Sonnenlicht des Spätnachmittags. Die Finger waren dick mit Glibber beschmiert. Ihr ganzer Unterarm schien mit Streifen hellroter Latexfarbe bemalt worden zu sein. Die Handschelle war kaum mehr als eine gekrümmte Wölbung, die aus dem generellen Sturzbach ragte, und Jessie wusste, besser würde es nicht mehr werden. Sie winkelte den Arm an und zog nach unten, wie schon zweimal vorher. Die Handschelle rutschte … rutschte noch ein Stück... und dann steckte sie wieder fest. Wieder hatte die Knochenwölbung unterhalb des Daumens sie aufgehalten.
    »Nein!«, schrie Jessie und zog fester. »Ich will so nicht sterben! Hast du mich gehört? ICH WILL SO NICHT STERBEN!«
    Die Handschelle grub sich schmerzhaft ins Fleisch, und einen verzweifelten Augenblick lang war Jessie davon überzeugt, dass sie sich keinen Millimeter mehr bewegen würde, dass sie erst wieder rutschen würde, wenn ein zigarrenrauchender Polizist sie aufschloss und ihrem, Jessies, erstarrtem Leichnam abnahm. Sie konnte sie nicht bewegen, keine Macht der Welt konnte sie bewegen, und weder die himmlischen Heerscharen noch die Potentaten der Hölle würden sie bewegen.
    Dann hatte sie ein Gefühl auf dem Rücken des Gelenks, das sich wie Wetterleuchten anfühlte, und die Handschelle rutschte ein Stückchen hoch. Sie steckte fest, dann bewegte sie sich wieder. Dabei breitete sich das heiße, elektrische Kribbeln aus und wurde rasch zu einem dunklen Brennen, das sich zuerst wie ein Armreif ganz um ihre Hand herumstreckte und dann wie ein Bataillon hungriger roter Ameisen zubiss.
    Die Handschelle bewegte sich, weil sich die Haut bewegte, auf der sie festsaß. Sie glitt so, wie ein schwerer Gegenstand auf einem Teppich glitt, wenn jemand an dem Teppich zog. Der zickzackförmige Schnitt, den sie sich am Handgelenk zugefügt hatte, wurde breiter; feuchte Sehnenstränge spannten sich über die Wunde und formten einen roten Armreif. Die Haut über dem Handrücken schlug Falten und staute sich vor der Handschelle, und dabei musste sie daran denken, wie die Bettdecke ausgesehen hatte, als sie diese mit den strampelnden Füßen zum Fußende des Betts geschoben hatte.
    Ich schäle meine Hand, dachte sie. O gütiger Gott, ich schäle sie wie eine Orange.
    »Lass los!«, schrie sie die Handschelle plötzlich wutschäumend an. In diesem Augenblick wurde die Handschelle etwas Lebendiges für sie, eine verhasste, klammernde Kreatur mit vielen Zähnen wie ein Neunauge oder ein tollwütiges Wiesel. »Oh, wirst du mich niemals freigeben?«
    Die Handschelle war viel weiter gerutscht als bei Jessies bisherigen Bemühungen, aber sie saß immer noch fest und weigerte sich störrisch, ihr diese letzten fünf Millimeter (vielleicht waren es auch nur noch drei) zuzugestehen. Der unerbittliche, blutige Kreis aus Edelstahl lag nun um eine teilweise von der Haut befreite Hand, wo man ein glänzendes Nest von Sehnen erkennen konnte, die wie Pflaumen gefärbt waren. Ihr Handrücken sah aus wie ein Truthahnschlegel, von dem man die knusprige Haut abgezogen hatte. Der konstante Druck nach

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