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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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viele Stunden gelegen hatte, der Matratze, wo ihr Umriss noch zu sehen war, eine eingedrückte, verschwitzte Vertiefung in der rosa Steppdecke, deren obere Hälfte teilweise mit Blut gezeichnet war. Als sie den Umriss betrachtete, wo sie gelegen hatte, wurde Jessie elend und wütend und ängstlich zugleich zumute. Ihn anzusehen machte sie rasend.
    Sie richtete den Blick von der Matratze, auf der jetzt das Regalbrett lag, zu ihrer zitternden rechten Hand. Diese hob sie an Mund und Zähne, damit sie den Glassplitter zu fassen bekam, der unter dem Daumennagel hervorragte. Das Glas glitt heraus, dann rutschte es zwischen einen Schneide- und Eckzahn und schnitt tief ins weiche rosa Zahnfleisch ihres Gaumens. Sie verspürte einen raschen, stechenden Schmerz, dann floss ihr Blut in den Mund, das süß-salzig schmeckte und so dickflüssig wie der Hustensaft mit Kirschgeschmack war, den sie trinken musste, als sie als Kind eine Erkältung gehabt hatte. Sie schenkte dieser neuen Schnittwunde keine Beachtung – sie hatte in den letzten paar Minuten mit viel Schlimmerem ihren Frieden gemacht -, sondern packte lediglich noch einmal zu und befreite den Splitter völlig aus dem Daumen. Als er draußen war, spie sie ihn zusammen mit einem Mundvoll warmem Blut auf das Bett.
    »Okay«, murmelte sie und zwängte sich schwer atmend zwischen Kopfteil und Wand.
    Das Bett glitt einfacher von der Wand weg, als sie zu hoffen gewagt hatte, aber sie hatte nie bezweifelt, dass es sich bewegen würde, wenn sie nur genügend Hebelwirkung zustande brachte. Die hatte sie nun, und damit schob sie das verhasste Bett über den gewachsten Boden. Es rutschte nach rechts, während Jessie schob, aber das hatte Jessie eingerechnet, daher machte es ihr nichts aus. Sie hatte sogar ihren rudimentären Plan darauf aufgebaut. Wenn sich das Glück wendet, dachte sie, wendet es sich gründlich. Du magst dir den Oberkiefer blutig geschnitten haben, aber du bist noch nicht auf eine einzige Glasscherbe getreten. Also schieb das Bett weiter, Herzblatt, und lass dich nicht …
    Sie stieß mit dem Fuß gegen etwas. Sah nach unten und stellte fest, dass sie gegen Geralds feiste rechte Schulter getreten war. Blut tropfte ihm auf Brust und Gesicht. Ein Tropfen fiel auf ein glasiges Auge und überzog es wie eine Kontaktlinse. Sie empfand kein Mitleid für ihn; sie empfand keinen Hass für ihn; sie empfand keine Liebe für ihn. Sie verspürte eine Art Grauen und Ekel vor sich selbst, weil alle Empfindungen, mit denen sie sich im Lauf der Jahre beschäftigt hatte – die sogenannten »zivilisierten« Gefühle, die das Rückgrat jeder Seifenoper, Talkshow und Anrufsendung im Radio waren -, neben dem Überlebensinstinkt so blass wirkten, der sich (zumindest in ihrem Fall) als so überwältigend und brutal beharrlich wie eine Bulldozerschaufel entpuppt hatte. Aber es war so, und sie hatte eine Ahnung, wenn sich Arsenio oder Oprah jemals in dieser Situation befinden würden, würden sie sich genauso verhalten wie sie, Jessie, selbst.
    »Geh mir aus dem Weg, Gerald«, sagte sie und gab ihm einen Tritt (und gestand sich selbst die enorme Befriedigung nicht ein, die in ihr aufwallte). Gerald rührte sich nicht. Es war, als hätten ihn die chemischen Reaktionen, die mit der Verwesung einhergingen, am Boden festgeklebt. Die Fliegen stoben als aufgeschreckter Schwarm von seiner verstümmelten Leibesmitte hoch. Das war alles.
    »Dann scheiß drauf«, sagte Jessie. Sie schob das Bett wieder. Es gelang ihr, mit dem rechten Fuß über Gerald zu steigen, aber ihr linker landete mitten auf seinem Bauch. Der Druck erzeugte einen abscheulichen Grunzton in seinem Hals und drückte eine kurze, übelriechende Gaswolke aus seinem offenen Mund. »Entschuldige dich, Gerald«, murmelte sie, dann ließ sie ihn ohne einen weiteren Blick hinter sich zurück. Jetzt sah sie zur Kommode, zur Kommode, auf der die Schlüssel lagen.
    Kaum hatte sie Gerald hinter sich gelassen, ließ sich der aufgeschreckte Fliegenschwarm wieder auf ihm nieder, und sie setzten ihr Tagewerk fort. Schließlich gab es so viel zu tun und so wenig Zeit.

32
     
     
     
    Ihre größte Angst war gewesen, dass sich das Fußende des Betts entweder in der Badezimmertür oder in der Ecke gegenüber verkanten würde, so dass sie zurücksetzen und manövrieren musste wie eine Frau, die ein großes Auto in eine enge Parklücke befördern wollte. Wie sich herausstellte, war die Drehbewegung nach rechts, die das Bett beschrieb, während sie

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