Das Spiel
Einfahrt nicht.
Natürlich nicht. Wahrscheinlich ist er sofort ums Haus herum und wieder in den Wald. Oder runter zum See. Stirbt vor Angst und rennt wie der Teufel. Wäre das nicht logisch?
Ruths Stimme antwortete nicht. Ebenso wenig die von Goody, obwohl Jessie im Augenblick beide recht gewesen wären.
»Ich habe ihn verscheucht«, sagte sie. »Da bin ich mir ganz sicher.«
Aber dennoch blieb sie reglos liegen, lauschte so angestrengt sie konnte, hörte aber nichts anderes als das Rauschen und Pochen ihres Blutes in den Ohren. Zumindest noch nichts anderes.
6
Sie hatte ihn nicht verscheucht.
Er hatte Angst vor Menschen und Häusern, damit hatte Jessie Recht gehabt, aber sie hatte seine verzweifelte Lage unterschätzt. Sein früherer Name – Prinz – war jetzt auf geradezu teuflische Weise ironisch. Er hatte eine Menge Abfalleimer wie den der Burlingames auf seinem langen, ausgehungerten Streifzug um den Kashwakamak Lake in diesem Herbst gesehen, den Geruch von Salami, Käse und Olivenöl aus diesem aber rasch links liegenlassen. Das Aroma war verlockend, aber bittere Erfahrung hatte den einstigen Prinz gelehrt, dass das so heiß Ersehnte außerhalb seiner Reichweite lag.
Aber da waren noch andere Gerüche; der Hund bekam jedes Mal eine Nase voll davon ab, wenn der Wind die Tür aufriss. Diese Gerüche waren schwächer als die aus dem Abfalleimer, und ihr Ursprung im Haus drinnen, aber sie waren so gut, dass er sie nicht außer Acht lassen konnte. Der Hund wusste, er würde wahrscheinlich von brüllenden Herrchen, die ihn verfolgten und mit ihren seltsamen harten Füßen traten, weggescheucht werden, aber die Gerüche waren stärker als seine Angst.
Eines hätte seinen schrecklichen Hunger vielleicht übertrumpfen können, aber bis jetzt wusste er noch nichts von Gewehren. Das würde sich ändern, wenn er bis zur Jagdzeit überlebte, aber die war erst in zwei Wochen, und so waren brüllende Herrchen mit ihren harten, schmerzhaften Füßen das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte.
Er schlüpfte zur Tür hinein, als der Wind sie aufriss, und trottete in die Diele … aber nicht zu weit. Er war bereit, im Moment der Gefahr einen hastigen Rückzug anzutreten.
Seine Ohren verrieten ihm, dass der Bewohner dieses Hauses ein Frauchen war, und sie hatte den Hund eindeutig bemerkt, weil sie ihn anschrie, aber der Streuner hörte in der schrillen Stimme des Frauchens Angst, keine Wut. Nachdem er anfänglich ängstlich zurückgezuckt war, verteidigte der Hund seine Position. Er wartete darauf, dass ein anderes Herrchen in die Schreie des Frauchens einstimmen oder gerannt kommen würde, und als das nicht geschah, streckte der Hund den Hals und schnupperte die leicht abgestandene Luft im Haus.
Zuerst wandte er sich nach rechts in Richtung Küche. Aus dieser Richtung waren die Geruchschübe durch die schlagende Tür gekommen. Die Gerüche waren trocken, aber lecker: Erdnussbutter, Cracker Marke Rye Krisp, Rosinen, Frühstücksflocken (dieser letztere Geruch drang aus einer Schachtel Special K in einem der Schränke – eine hungrige Feldmaus hatte ein Loch in den Boden der Schachtel genagt).
Der Hund ging einen Schritt in diese Richtung, dann drehte er den Kopf auf die andere Seite und vergewisserte sich, dass sich kein Herrchen anschlich – Herrchen brüllten meistens, aber sie konnten auch listig sein. Niemand stand im Flur, der nach links führte, aber der Hund nahm einen viel stärkeren Geruch von dort wahr, bei dem sich sein Magen in einem Anfall von wolfsartigem Hunger zusammenkrampfte.
Der Hund trottete den Flur entlang, und in seinen Augen funkelte eine irre Mischung aus Angst und Verlangen; die Schnauze hatte er gerümpft wie einen faltigen Teppich, die lange Oberlippe hob und senkte sich zu einem nervösen, zuckenden Schnuppern, bei dem spitze weiße Zähne zu sehen waren. Ein Urinstrahl schoss ängstlich aus ihm heraus und markierte die Diele – und damit das ganze Haus – als sein Territorium.
Das Geräusch war so leise und kurz, dass nicht einmal Jessies gespitzte Ohren es hören konnten.
Er roch Blut. Der Geruch war stark und falsch zugleich. Letztlich gab der nagende Hunger des Hundes den Ausschlag; er musste bald fressen oder sterben. Der einstige Prinz ging langsam den Flur entlang zum Schlafzimmer. Dabei wurde der Geruch immer stärker. Es war Blut, das stimmte, aber es war das falsche Blut. Es war das Blut eines Herrchens. Dennoch war der Geruch in sein kleines,
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