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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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kurzer Schrei entrang sich ihr. Sie fand, er hörte sich wie das Krächzen einer durstigen Krähe an.
    »Was soll ich nur machen?«, fragte sie das Wellenschimmern an der Decke und brach schließlich in Tränen der Angst und Verzweiflung aus. »Was, in Gottes Namen, soll ich nur machen?«
    Wie als Antwort fing der Hund wieder an zu bellen, und dieses Mal war er so nahe, dass sie einen Angstschrei ausstieß. Es hörte sich an, als wäre er unmittelbar unter dem Ostfenster, in der Einfahrt.

5
     
     
     
    Der Hund war nicht in der Einfahrt; er war sogar noch näher. Der Schatten, der sich auf dem Asphalt fast bis zur vorderen Stoßstange des Mercedes erstreckte, deutete darauf hin, dass er sich auf der hinteren Veranda befand. Der lange, verzerrte Schatten sah aus, als gehörte er einer verkrüppelten und monströsen Missgeburt, und sie hasste ihn schon beim bloßen Ansehen.
    Sei nicht so verdammt albern, schalt sie sich. Der Schatten sieht nur so aus, weil die Sonne untergeht. Und jetzt mach den Mund auf, und gib Laut, Mädchen – es muss ja nicht unbedingt ein Streuner sein.
    Schon richtig; vielleicht gehörte doch ein Herrchen dazu, aber ihre Hoffnung hielt sich in Grenzen. Sie vermutete, dass der Hund von dem drahtgittergeschützten Abfalleimer gleich neben der Verandatür angelockt worden war. Gerald hatte diese ordentliche Konstruktion mit den Zedernschindeln und zwei Scharnieren an der Klappe manchmal ihren Waschbärmagneten genannt. Dieses Mal hatte er einen Hund statt eines Waschbären angezogen, das war alles – mit ziemlicher Sicherheit ein Streuner. Ein ausgehungerter, vom Pech verfolgter Köter.
    Trotzdem musste sie rufen.
    »He!«, schrie sie. »He! Ist jemand da? Ich brauche Hilfe, wenn da jemand ist! Ist da jemand?«
    Der Hund hörte sofort auf zu bellen. Sein spinnengleicher, verzerrter Schatten zuckte zusammen, drehte sich um, setzte sich in Bewegung … und blieb wieder stehen. Sie und Gerald hatten während der Fahrt von Portland hierher Sandwiches gegessen, große, ölige Brötchen mit Salami und Käse, und als sie angekommen waren, hatte sie als Erstes Krümel und Verpackung genommen und in den Abfalleimer geworfen. Der leckere Geruch von Öl und Fleisch hatte den Hund wahrscheinlich überhaupt erst angezogen, und zweifellos hielt ihn dieser Geruch auch davon ab, in den Wald zurückzulaufen, als er ihre Stimme hörte. Der Geruch war stärker als die Impulse seines ängstlichen Herzens.
    »Hilfe!«, schrie Jessie, und ein Teil ihres Verstands warnte sie, dass es wahrscheinlich ein Fehler war zu schreien, dass sie sich nur die Kehle heiser schreien und sich noch durstiger machen würde, aber diese vernünftige, besonnene Stimme hatte keine Chance. Sie hatte den Gestank ihrer eigenen Angst wahrgenommen, der so stark und verlockend war wie der Geruch der Sandwichreste für den Hund, und dieser beförderte sie rasch in einen Zustand, der nicht Panik war, sondern eine Art vorübergehenden Wahnsinns.
    »HILFE! HELFT MIR DOCH! HILFE! HILFE! HIIIIIIIL-FEEE!«
    Nun endlich brach ihre Stimme, und sie drehte den Kopf so weit nach rechts, wie sie konnte, das Haar klebte ihr als schweißnasse Locken und Strähnen an Wangen und Stirn, die Augen quollen ihr aus den Höhlen. Die Angst davor, nackt und angekettet neben ihrem toten Mann gefunden zu werden, war nicht einmal mehr ein nebensächlicher Faktor in ihrem Denken. Dieser neue Panikanfall war wie eine unheimliche geistige Sonnenfinsternis – er überschattete das helle Licht von Vernunft und Hoffnung und zeigte ihr die schrecklichsten Möglichkeiten, die man sich nur vorstellen konnte: Verhungern, Wahnsinn vor Durst, Krämpfe, Tod. Sie war nicht Heather Locklear oder Victoria Principal, und dies war kein spannender Fernsehfilm für einen amerikanischen Kabelkanal. Es gab keine Kameras, keine Beleuchtung, keinen Regisseur, der Schnitt rief. Dies geschah wirklich, und wenn keine Hilfe kam, konnte es weiter geschehen, bis sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Sie machte sich keine Gedanken mehr über die Umstände ihrer Entdeckung, sie hatte einen Punkt erreicht, wo sie Maury Povitch und den gesamten Stab von A Current Affair mit Tränen der Dankbarkeit willkommen geheißen hätte.
    Aber niemand antwortete auf ihre panischen Rufe – kein Hausmeister, der gekommen war, um nach dem Haus am See zu sehen, kein neugieriger Einheimischer, der seinen Hund Gassi führte (und möglicherweise herausfinden wollte, welcher seiner Nachbarn ein bisschen Marihuana

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