Das Spiel
Schnurrhaare. Das Stachelschwein hatte er vor etwa zehn Tagen tot unter einem Baumstamm gefunden, aber nach der ersten Nase voll Stacheln aufgegeben. Er war hungrig gewesen, aber noch nicht völlig verzweifelt.
Jetzt war er beides. Seine letzte Mahlzeit hatte aus ein paar madigen Fleischbrocken bestanden, die er aus einem Abfalleimer im Straßengraben an der Route 117 gewühlt hatte, und das war auch schon zwei Tage her. Der Hund, der rasch gelernt hatte, Catherine Sutlin einen roten Gummiball zu bringen, wenn sie ihn über den Wohnzimmerboden oder in die Diele rollte, war inzwischen buchstäblich am Verhungern.
Ja, aber hier – genau hier, auf dem Boden, in Sichtweite! - lagen Pfunde und Aberpfunde von frischem Fleisch und Fett und Knochen voll köstlichem Mark. Es war wie ein Geschenk vom Gott der Streuner.
Der einstige Liebling von Catherine Sutlin ging weiter auf den Leichnam von Gerald Burlingame zu.
8
Das kann gar nicht passieren, sagte sie sich. Völlig unmöglich, also beruhige dich wieder.
Sie sagte es sich bis zu dem Moment, als der Oberkörper des Streuners hinter der linken Bettseite verschwand. Er wedelte heftiger denn je mit dem Schwanz, und dann folgte ein Geräusch, das sie kannte – das Geräusch eines Hundes, der an einem heißen Sommertag aus einer Pfütze trank. Aber es war nicht ganz so. Dieses Geräusch war irgendwie rauer, weniger ein Schlabbern als vielmehr ein Lecken. Jessie betrachtete den heftig wedelnden Schwanz, und dann zeigte ihr ihr geistiges Auge plötzlich, was hinter dem Bett, vor ihren Blicken verborgen, vor sich ging. Der heimatlose Streuner mit dem Fell voller Zecken und den erschöpften, argwöhnischen Augen leckte das Blut aus dem schütteren Haar ihres Mannes.
»NEIN!« Sie hob die Pobacken vom Bett und schwang die Beine nach links. »GEH WEG VON IHM! GEH DA WEG!« Sie trat nach ihm und strich mit einer Ferse über die Wölbungen der Wirbelsäule des Hundes.
Dieser wich augenblicklich zurück und hob die Schnauze; die Augen hatte er so weit aufgerissen, dass dünne weiße Ringe zu sehen waren. Er machte das Maul auf, und im verblassenden Licht der Nachmittagssonne sahen die Speichelfäden zwischen der oberen und unteren Zahnreihe wie Fäden gesponnenen Golds aus. Er schnappte nach ihrem bloßen Fuß. Jessie zog ihn mit einem Aufschrei zurück, spürte den heißen Atem des Hundes auf der Haut, konnte aber die Zehen retten. Jessie verschränkte die Füße wieder unter sich, ohne es zu bemerken, ohne auf den schmerzhaften Protest der überlasteten Schultermuskeln zu achten, ohne zu spüren, wie ihre Gelenke sich widerwillig in ihren Gelenkpfannen drehten.
Der Hund sah sie noch einen Augenblick an, knurrte weiter, bedrohte sie mit den Augen. Eines wollen wir klarstellen, Lady, sagten diese Augen. Du ziehst deine Sache durch, und ich meine. So lautet der Deal. Klingt gut? Sollte es, denn wenn du mir in den Weg kommst, mach ich dich fertig. Er ist sowieso tot – das weißt du so gut wie ich, warum sollte er also vergeudet werden, wo ich am Verhungern bin? Du würdest es genauso machen. Ich bezweifle, ob du das jetzt schon weißt, aber ich denke, früher oder später wirst auch du auf den Trichter kommen, und zwar eher früher als später.
»Hinaus!«, schrie sie. Jetzt hockte sie auf den Fersen und hatte die Arme auf beiden Seiten ausgestreckt und sah damit Fay Wray auf dem Opferaltar im Dschungel ähnlicher denn je. Ihre Haltung – Kopf erhoben, Brüste vorgestreckt, Schultern so weit zurückgezogen, dass sie an den äußersten Punkten weiß vor Anstrengung waren, tiefe dreieckige Schatten am Halsansatz – war die eines ungewöhnlich scharfen Pin-ups in einem Männermagazin. Der unvermeidliche, schmollend einladende Mund fehlte freilich; ihr Gesichtsausdruck war der einer Frau, die dicht an der Grenze zwischen dem Land der Normalen und dem der Wahnsinnigen stand. »RAUS MIT DIR!«
Der Hund sah weiter zu ihr auf und knurrte noch einige Augenblicke. Als er sich anscheinend vergewissert hatte, dass sich die Tritte nicht wiederholen würden, schenkte er ihr keine Beachtung mehr und senkte wieder den Kopf. Dieses Mal erfolgte kein Schlabbern und kein Lecken. Stattdessen hörte sie ein lautes Schmatzen. Es erinnerte sie an die enthusiastischen Küsse, die ihr Bruder Will bei Besuchen immer auf Oma Joans Wangen gedrückt hatte.
Das Knurren hielt noch ein paar Sekunden an, aber jetzt war es seltsam gedämpft, als hätte jemand dem Streuner einen Kissenbezug
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