Das Spiel
die er kämpfen – und notfalls sterben – würde, wenn er angegriffen wurde. Aber es war nur das Frauchen, das dieses Geräusch von sich gab, und der Hund war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass das Frauchen keine wirkliche Macht hatte.
Er senkte den Kopf, packte Gerald Burlingames Wange noch einmal, zuckte zurück und bewegte dabei heftig den Kopf hin und her. Ein langer Streifen der Wange des Toten löste sich mit einem Geräusch, als würde Klebeband von der Verteilerrolle gerissen werden. Gerald stellte jetzt das verzerrte Raubtiergrinsen eines Mannes zur Schau, der gerade bei einem Pokerspiel mit höchsten Einsätzen ein Straight Flush bekommen hatte.
Jessie stöhnte wieder. Diesem Geräusch folgten eine Reihe kehliger, unverständlicher Sprechlaute. Der Hund sah noch einmal zu ihr auf. Er war sich sicher, dass sie nicht vom Bett aufstehen und ihn behelligen konnte, aber diese Geräusche erfüllten ihn trotzdem mit Unbehagen. Das alte Tabu war zwar verblasst, aber noch nicht ganz verschwunden. Außerdem war sein Hunger gestillt; jetzt fraß er nicht, sondern kostete. Er drehte sich um und trottete wieder aus dem Zimmer. Der größte Teil von Geralds linker Wange baumelte ihm aus dem Maul wie der Skalp eines Kleinkinds.
11
Es ist der 14. August 1965 – etwas mehr als zwei Jahre nachdem die Sonne erloschen ist. Es ist Wills Geburtstag; er läuft schon den ganzen Tag herum und erzählt den Leuten, dass er jetzt ein Jahr für jede Spielrunde bei einem Baseballspiel gelebt hat. Jessie kann nicht verstehen, warum ihr Bruder darum so ein Aufhebens macht, aber es ist nun mal so, und sie kommt zum Ergebnis, dass es seine Sache ist, wenn Will sein Leben mit einem Baseballspiel vergleichen will.
Eine Weile läuft alles prima beim Geburtstagsfest ihres kleinen Bruders. Marvin Gaye singt vom Tonband, zugegeben, aber es ist nicht das böse Lied, das gefährliche Lied. »I wouldn’t be doggone«, singt Marvin gespielt bedrohlich, »I’d be long gone … bay-bee.« Eigentlich ein niedlicher Song, und in Wahrheit war der Tag viel besser als prima, jedenfalls bisher; er war, mit den Worten von Jessies Großtante Katherine, »feiner als Fiedelmusik«. Selbst ihr Dad denkt das, obwohl er nicht besonders begeistert über den Vorschlag war, wegen Wills Geburtstag nach Falmouth zurückzufahren, als dieser zum ersten Mal ausgesprochen wurde. Jessie hat ihn Ich glaube, es war doch eine gute Idee zu ihrer Mutter sagen hören, und jetzt ist sie stolz, weil sie – Jessie Mahout, Tochter von Tom und Sally, Schwester von Will und Maddy, Frau von niemand – den Vorschlag gemacht hat. Wegen ihr sind sie hier und nicht im Landesinneren, in Sunset Trails.
Sunset Trails ist der Feriensitz der Familie (aber nach drei Generationen willkürlicher Familienexpansion ist er so groß, dass man schon fast von einem Landgut sprechen kann) am nördlichen Ende des Dark Score Lake. Dieses Jahr haben sie ihre üblichen neun Wochen in Abgeschiedenheit unterbrochen, weil Will – nur ein einziges Mal, hat er seinen Eltern im Tonfall eines bettlägerigen alten Grandseigneurs gesagt, der weiß, dass er dem Sensenmann nicht mehr lange von der Schippe springen kann – seine Geburtstagsparty mit seinen Freunden und seiner Familie feiern möchte.
Tom Mahout spricht sich zunächst gegen den Vorschlag aus. Er ist Börsenmakler, der seine Zeit in Portland und Boston verbringt, und er hat seine Familie seit Jahren beschworen, sie sollen die Propaganda nicht glauben, wonach Männer, die mit weißem Hemd und Krawatte zur Arbeit gehen, ihre Tage mit Herumalbern verbringen – dass sie entweder beim Wasserspender herumhängen oder hübschen Blondinen aus der Stenotypistinnenriege Einladungen zum Essen diktieren. »Kein fleißiger Kartoffelfarmer in Aroostook County arbeitet härter als ich«, sagt er ihnen gelegentlich. »Es ist nicht leicht, mit dem Markt Schritt zu halten, und auch nicht besonders glamourös, ganz egal, was ihr Gegenteiliges gehört haben mögt.« In Wahrheit hat keiner von ihnen etwas Gegenteiliges gehört, sie alle (wahrscheinlich einschließlich seiner Frau, obwohl Sally es nie sagen würde) sind der Meinung, dass sein Job langweiliger als Eselsscheiße ist, und nur Maddy hat eine vage Vorstellung davon, was er eigentlich treibt.
Tom besteht darauf, dass er die Zeit am See braucht, um sich vom Stress der Arbeit zu erholen, und dass sein Sohn später noch genügend Geburtstage mit seinen Freunden daheim feiern kann.
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