Das Spiel
Schließlich wird Will neun, nicht neunzig. »Außerdem«, fügt Tom hinzu, »sind Geburtstagspartys mit Freunden wirklich erst lustig, wenn man alt genug ist, um ein oder zwei Fässchen zu leeren.«
Damit wäre Wills Bitte, seinen Geburtstag im Haus der Familie an der Küste zu feiern, wahrscheinlich abgelehnt worden, wenn Jessie nicht überraschenderweise den Plan unterstützt hätte (was für Will ziemlich überraschend kommt; Jessie ist drei Jahre älter; und er ist sich häufig nicht sicher, ob sie überhaupt noch weiß, dass sie einen Bruder hat). Nach ihrem mit leiser Stimme ausgesprochenen Vorschlag, es könnte schön sein, nach Hause zu fahren – natürlich nur zwei oder drei Tage – und eine Gartenparty mit Krocket und Federball und einem Grill und Papierlampions, die bei Dämmerung eingeschaltet werden, zu feiern, findet auch Tom Gefallen an der Idee. Er ist ein Mann, der sich als »willensstarken Hurensohn« betrachtet, von anderen aber häufig als »sturer alter Bock« bezeichnet wird; wie man es auch sehen mochte, es war immer schwer, ihn umzustimmen, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Seine jüngere Tochter ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. In den etwas über zwei Jahren seit die Sonne erloschen ist, hat Jessie oft ein Schlupfloch oder einen Geheimgang ins Denken ihres Vaters gefunden, die dem Rest der Familie verschlossen blieben. Sally ist der Überzeugung, ihr zweites Kind ist einfach Papas Liebling und Tom gibt sich der irrigen Meinung hin, dass die anderen das nicht merken würden. Maddy und Will sehen es einfacher: Sie glauben, dass Jessie ihrem Vater in den Arsch kriecht und er sie dafür vollkommen verzieht. »Wenn Daddy Jessie beim Rauchen erwischen würde«, hat Will im Jahr zuvor seiner älteren Schwester gesagt, als Maddy wegen eben diesem Vergehen verdonnert worden ist, »würde er ihr wahrscheinlich auch noch ein Feuerzeug kaufen.« Maddy hat gelacht, zugestimmt und ihren Bruder umarmt. Weder sie noch ihre Mutter haben eine Ahnung von dem Geheimnis, das zwischen Tom Mahout und seiner jüngsten Tochter wie ein Berg verfaultes Fleisch liegt.
Jessie selbst glaubt, dass sie einfach die Bitte ihres kleinen Bruders unterstützt – sie stärkt ihm den Rücken. Sie hat keine Ahnung, jedenfalls nicht in ihrem bewussten Denken, dass sie Sunset Trails hasst und geradezu darauf brennt, von dort wegzukommen. Außerdem hasst sie den See, den sie einmal so von Herzen geliebt hat – besonders den schwachen Mineraliengeruch. 1965 kann sie es kaum noch ertragen, dort schwimmen zu gehen, selbst an den heißesten Tagen. Sie weiß, ihre Mutter denkt, das liegt an ihren Formen – Jessie ist früh erblüht, genau wie Sally, und hat im Alter von zwölf Jahren schon eine frauliche Figur -, aber es liegt nicht an ihren Formen. Daran hat sie sich gewöhnt, und sie weiß, dass sie mit ihren alten und verblichenen Badeanzügen von Jantzen kaum wie ein Pin-up aus dem Playboy aussieht. Nein, es liegt nicht an ihren Brüsten, nicht an den Hüften, nicht an ihrer Mimi. Es liegt an diesem Geruch.
Welche Gründe auch immer ausschlaggebend sein mögen, Will Mahouts Bitte wird schließlich durch das Oberhaupt der Familie Mahout gebilligt. Sie haben den Rückweg zur Küste gestern gemacht und sind so zeitig aufgebrochen, damit Sally (mit eifriger Unterstützung beider Töchter) die Party noch vorbereiten kann. Heute ist der 14. August, und der 14. August ist unbedingt der Höhepunkt des Sommers in Maine, ein Tag mit verblasstem blauem Jeanshimmel und dicken weißen Wolken, und alles wird von einem salzigen Meerwind aufgefrischt.
Im Landesinneren – dazu gehören der Lake District, wo Sunset Trails am Ufer des Dark Score Lake steht, seit Tom Mahouts Großvater die ursprüngliche Hütte 1923 erbaut hat – stöhnen Wälder und Seen und Teiche und Moore unter Temperaturen um die dreiunddreißig Grad, und die Luftfeuchtigkeit liegt dicht unter dem Sättigungspunkt, aber hier, an der Meeresküste, herrschen nur achtundzwanzig Grad. Der Wind vom Meer ist ein Extrabonus, er macht die Luftfeuchtigkeit erträglich und fegt Moskitos und Fliegen fort. Auf dem Rasen tummeln sich Kinder, überwiegend Wills Freunde, aber auch Mädchen, die mit Maddy und Jessie schwatzen, und endlich einmal, mirabile dictu, scheinen sie gut miteinander auszukommen. Kein einziger Streit ist ausgebrochen, und gegen fünf Uhr, als Tom den ersten Martini des Tages zu den Lippen führt, sieht er Jessie an, die in der Nähe
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