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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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meinte immer ernst, was sie sagte, eben deshalb war sie häufig so langweilig.
    Was immer ich träume, dachte Jessie, bestimmt nicht, dass ich Durst habe. Ich hatte in den letzten zehn Jahren nicht viele klare Siege zu verzeichnen – hauptsächlich ein halbherziges Guerillascharmützel nach dem anderen -, aber dieses Glas Wasser zu bekommen war ein klarer Sieg. Oder etwa nicht?
    Doch, stimmte die UFO-Stimme zu. Es war eine vage maskuline Stimme, und Jessie fragte sich auf verschlafene Weise, ob es vielleicht die Stimme ihres Bruders Will war … Will, wie er als Kind gewesen war, damals in den Sechzigern. Auf jeden Fall. Das war toll.
    Fünf Minuten später schlief Jessie tief, die Arme hoch erhoben und schlaff V-förmig gespreizt, die Handgelenke locker mit den Handschellen an die Bettpfosten gefesselt, der Kopf auf der rechten Schulter (die, die weniger wehtat), und langgezogenes, langsames Schnarchen drang aus ihrem Mund. Und an einem bestimmten Punkt – lange nachdem die Dunkelheit hereingebrochen und im Osten eine weiße Mondsichel aufgegangen war – erschien der Hund wieder unter der Tür.
    Er war, wie Jessie, ruhiger geworden, nachdem sein dringendstes Bedürfnis erfüllt und das Grummeln in seinem Bauch bis zu einem gewissen Maß gestillt worden war. Er betrachtete sie lange Zeit gebannt, die Schnauze erhoben und das gute Ohr aufgestellt, und versuchte zu entscheiden, ob sie wirklich schlief oder nur so tat. Er kam zum Ergebnis (weitgehend auf der Basis von Gerüchen – trocknender Schweiß, völliges Fehlen des knisternden Ozongestanks von Adrenalin), dass sie wirklich schlief. Dieses Mal würde er keine Tritte oder Schreie ernten – wenn er darauf achtete, sie nicht zu wecken.
    Der Hund schlich leise zu dem Fleischberg mitten im Zimmer. Obwohl er nicht mehr so großen Hunger hatte, roch das Fleisch jetzt noch besser. Das lag daran, dass die erste Mahlzeit viel dazu beigetragen hatte, das uralte, angezüchtete Tabu gegen diese Art von Fleisch zu brechen, auch wenn der Hund das nicht wusste und es ihm einerlei gewesen wäre, hätte er es gewusst.
    Er senkte den Kopf und schnupperte den inzwischen attraktiven Geruch des toten Anwalts mit dem Gebaren eines Feinschmeckers, dann schlug er die Zähne behutsam in Geralds Unterlippe. Er zog, steigerte die Kraft langsam und dehnte das Fleisch immer weiter. Gerald sah aus, als würde er einen monströsen Schmollmund ziehen. Schließlich riss die Lippe ab und legte die unteren Zähne zu einem gewaltigen toten Grinsen bloß. Der Hund schluckte diese kleine Delikatesse mit einem Happs, dann leckte er sich die Lefzen. Er wedelte wieder mit dem Schwanz, dieses Mal mit langsamen, zufriedenen Bewegungen. Zwei winzige Lichtpunkte tanzten hoch oben an der Decke; Mondlicht, das sich auf den Füllungen von zwei von Geralds unteren Mahlzähnen spiegelte. Diese Füllungen waren erst vor zwei Wochen gemacht worden und immer noch so frisch und glänzend wie frisch geprägte Vierteldollarstücke.
    Der Hund leckte sich die Lefzen zum zweiten Mal und sah Gerald dabei liebevoll an. Dann streckte er den Hals fast genau so, wie Jessie ihren gestreckt hatte, damit sie endlich den Strohhalm in das Wasserglas brachte. Der Hund schnupperte an Geralds Gesicht, aber er schnupperte nicht nur; er gestattete seiner Nase eine Art von Geruchsferien, indem er zuerst das schwache Holzpolituraroma von braunem Wachs tief im linken Ohr des toten Herrchens wahrnahm, dann die Geruchsmischung von Schweiß und Prell-Pomade am Haaransatz, dann den stechenden, verlockend bitteren Geruch von verkrustetem Blut auf Geralds Schädel. Besonders lange verweilte er bei Geralds Nase und nahm mit seiner zerkratzten, schmutzigen, aber ach so feinen Schnauze eine eingehende Untersuchung der jetzt freien Kanäle vor. Wieder herrschte ein Eindruck von Feinschmeckerei vor, als würde der Hund unter vielen unerwarteten Schätzen auswählen. Schließlich grub er die scharfen Zähne tief in Geralds linke Wange, biss sie zusammen und fing an zu ziehen.
    Auf dem Bett bewegte Jessie die Augen rasch hinter den geschlossenen Lidern und stöhnte – ein hoher, zitternder Laut voll Entsetzen und Erkennen.
    Der Hund sah ein Mal auf, sein Körper nahm instinktiv die geduckte Haltung von Schuld und Angst ein. Aber das dauerte nicht lange; er betrachtete diesen Fleischberg nicht mehr als etwas Verbotenes, dem man sich ausschließlich in der Gewalt von tödlichem Hunger nähern durfte, sondern als seine private Vorratskammer, für

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