Das Spiel
die Ankunft dieses Wahnsinnigen gerochen hatte, der den Pfad vom See entlanggekommen war und eine blutbespritzte Säge Marke Stihl in einer Hand im Arbeitshandschuh geschwungen hatte …
Aufhören!, rief Goody wütend. Hör augenblicklich mit diesen Albernheiten auf, und nimm dich zusammen!
Aber sie stellte fest, dass sie nicht aufhören konnte, denn dies war kein Traum, und außerdem war sie in zunehmendem Maße davon überzeugt, dass die Gestalt, die stumm und reglos wie Frankensteins Ungeheuer vor dem Blitzschlag in der Ecke stand, wirklich war. Aber selbst wenn, hatte er den Nachmittag nicht damit verbracht, Leute mit der Motorsäge in Gehacktes zu verwandeln. Selbstverständlich nicht – das war nichts weiter als eine vom Kino beeinflusste Variation der simplen, grusligen Ferienlagergeschichten, die so komisch waren, wenn man mit den anderen Mädchen ums Feuer versammelt saß und Marshmallows röstete, und später so grässlich, wenn man zitternd im Schlafsack lag und glaubte, dass jeder knacksende Ast die Ankunft des Lakeview Man bedeutete, des legendären, hirngeschädigten Überlebenden des Koreakriegs.
Das Ding, das in der Ecke stand, war nicht der Lakeview Man und auch kein Kettensägenmörder. Es war etwas auf dem Boden (jedenfalls war sie sich da ziemlich sicher), und Jessie überlegte, es könnte eine Motorsäge sein, aber es konnte auch ein Koffer sein … ein Rucksack … der Musterkoffer eines Vertreters …
Oder meine Einbildung.
Ja. Obwohl sie es genau betrachtete, was immer es war, konnte sie die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es nur in ihrer Einbildung existierte. Aber auf eine perverse Weise bestärkte das nur die Überzeugung, dass die Kreatur selbst wirklich war, und es wurde immer schwerer, die Aura des Bösen zu übersehen, die wie ein unablässiges, leises Knurren aus dem Dickicht schwarzer Schatten und fahlen Mondlichts drang.
Es hasst mich, dachte sie. Was es auch sein mag, es hasst mich. Es muss mich hassen. Warum würde es sonst nur dastehen und mir nicht helfen?
Sie betrachtete wieder das halb sichtbare Gesicht, die Augen, in denen eine fiebrige Abneigung in den schwarzen Höhlen zu lodern schien, und fing an zu weinen.
»Bitte, ist da jemand?« Ihre Stimme klang unterwürfig und von Tränen erstickt. »Wenn ja, können Sie mir nicht helfen? Sehen Sie diese Handschellen? Die Schlüssel sind neben Ihnen auf der Kommode …«
Nichts. Keine Bewegung. Keine Antwort. Es stand einfach nur da – das heißt, wenn es wirklich da war – und betrachtete sie hinter seiner trügerischen Maske der Schatten.
»Wenn ich niemand sagen soll, dass ich Sie gesehen habe, werde ich das auch nicht tun«, versuchte sie es noch einmal. Ihre Stimme bebte, nuschelte, schwoll an und brach. »Sicher nicht! Und ich wäre Ihnen so … so dankbar …«
Es beobachtete sie.
Nur das, nichts mehr.
Jessie spürte, wie ihr die Tränen langsam die Wangen hinunterrannen. »Sie machen mir Angst, wissen Sie das?«, sagte sie. »Warum sagen Sie denn nichts? Wenn Sie wirklich da sind, sprechen Sie bitte mit mir, ja?«
Da packte sie eine dünne, schreckliche Hysterie und flog mit einem wertvollen, unersetzlichen Teil von ihr in den knochigen Klauen davon. Sie weinte und beschwor die stumme Gestalt, die reglos in der Ecke des Schlafzimmers stand; dabei blieb sie die ganze Zeit bei Bewusstsein, wanderte aber manchmal in das eigentümlich leere Terrain, welches für all jene reserviert war, deren Entsetzen so groß war, dass es schon Verzückung gleichkam. Sie hörte sich selbst, wie sie die Gestalt mit heiserer, verheulter Stimme bat, sie doch bitte von den Handschellen zu befreien, sie bitte, o bitte, o bitte von den Handschellen zu befreien, und dann versank sie wieder in dieser eigentümlichen Leere. Sie wusste, dass sie den Mund noch bewegte, weil sie es spürte. Sie konnte auch die Töne hören, die herauskamen, aber solange sie sich in dem leeren Terrain aufhielt, waren diese Töne keine Worte, sondern nur zusammenhanglose, stammelnde Sprachfluten: Sie konnte den Wind wehen und den Hund bellen hören, war wach, aber nicht wissend, hörte, aber verstand nicht, verlor alles im Grauen des halb erblickten Schemens, des grässlichen Besuchers, des ungebetenen Gasts. Sie konnte nicht aufhören, über den schmalen, missgestalteten Kopf nachzudenken, die weißen Wangen, die hängenden Schultern … aber ihre Augen wurden immer häufiger zu den Händen der Kreatur gezogen: den baumelnden, langfingrigen Händen,
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