Das Spiel
tote Hüllen, in denen das Leben kurz in heftigen, aber vergänglichen Sturmsystemen gewütet hatte. Manchmal war ihr diese Amnesie – so es denn eine war – traurig vorgekommen. Jetzt nicht. Sie hatte das Vergessen in ihrem ganzen Leben noch nie so schnell und gründlich mit Barmherzigkeit gleichgesetzt.
Und es spielt auch keine Rolle, dachte sie. Schließlich war es nur ein Traum. Ich meine, Köpfe, die aus Köpfen kommen! Träume sollen angeblich symbolisch sein – ja, ich weiß -, und ich schätze, dieser hätte wirklich symbolischen Charakter haben können … vielleicht sogar einen wahren Kern. Wenn sonst schon nichts, so verstehe ich jetzt wenigstens, warum ich Will geschlagen habe, als er mich an diesem Tag gekniffen hat. Nora Callighan wäre zweifellos aus dem Häuschen – sie würde von einem Durchbruch sprechen. Vielleicht ist es einer. Aber das trägt keinen Deut dazu bei, mich aus diesem elenden Gefängnis herauszubringen, und das hat immer noch oberste Priorität. Oder ist jemand etwa anderer Meinung?
Weder Ruth noch Goody antworteten; die UFO-Stimmen waren ebenfalls stumm. Die einzige Antwort kam von ihrem Magen, dem es schrecklich leidtat, dass das alles passiert war, der sich aber dennoch veranlasst fühlte, seinem Unmut über das ausgefallene Abendessen mit einem lauten Knurren Luft zu machen. Irgendwie komisch … aber morgen um diese Zeit wahrscheinlich nicht mehr so sehr. Bis dahin würde sie auch wieder rasenden Durst haben, und sie machte sich keine Illusionen mehr, wie lange die beiden letzten Schlucke Wasser diesen Durst stillen konnten, selbst wenn sie sie sich holen konnte.
Ich muss mich auf eines konzentrieren – das muss ich einfach. Das Problem ist nicht Essen und auch nicht Wasser. Augenblicklich ist das so unwichtig wie der Grund, warum ich Will an seinem neunten Geburtstag auf den Mund geschlagen habe. Das Problem ist, wie ich …
Ihre Gedanken brachen mit dem lauten Knall eines harzigen Asts ab, der in einem heißen Feuer explodierte. Ihr Blick, der unablässig durch das halbdunkle Zimmer geschweift war, verweilte in der gegenüberliegenden Ecke, wo die windgepeitschten Schatten der Pinien wild im kargen Sternenschein durch das Oberlicht tanzten.
Dort stand ein Mann.
Größeres Entsetzen, als sie es je empfunden hatte, erfüllte sie, ein so überwältigendes Gefühl, dass sie glaubte, das Herz müsste ihr zerspringen. Ihre Blase, die nur den schlimmsten Druck beseitigt hatte, leerte sich nun mit einem schmerzlosen, warmen Strahl. Jessie merkte weder das noch sonst etwas. Ihre Angst hatte ihren Verstand vorübergehend von Wand zu Wand und von Boden bis Decke leergefegt. Sie gab keinen Laut von sich, nicht einmal das leiseste Wimmern; sie konnte ebenso wenig etwas sagen wie denken. Ihre Hals-, Schulter- und Oberarmmuskeln schienen sich in warmes Wasser zu verwandeln und am Kopfteil hinabzufließen, bis sie wie ein nasser Sack in den Handschellen hing. Sie wurde nicht ohnmächtig – nicht einmal annähernd -, aber die geistige Leere und das völlige körperliche Unvermögen, das damit einherging, waren schlimmer als eine Ohnmacht. Als das Denken wieder einsetzen wollte, wurde es anfänglich von einer dunklen, konturlosen Mauer der Angst abgeblockt.
Ein Mann. Ein Mann in der Ecke.
Sie konnte seine dunklen Augen sehen, die sie mit starrer, idiotischer Aufmerksamkeit fixierten. Sie konnte das wächserne Weiß seiner eingefallenen Wangen und der hohen Stirn sehen, aber die eigentlichen Gesichtszüge des Eindringlings wurden vom Spiel der Schatten unkenntlich gemacht, das über sie hinwegsauste. Sie konnte hängende Schultern und baumelnde, affengleiche Arme erkennen, die in langen Händen endeten; sie erahnte Füße in dem schwarzen Schattendreieck, das die Kommode warf, aber das war auch schon alles.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in dieser grässlichen Halbstarre lag, reglos, aber bei Bewusstsein wie ein Käfer nach dem Stich einer Minierspinne. Es schien sehr lange zu sein. Die Sekunden verstrichen, und sie war außerstande, auch nur die Augen zu schließen, geschweige denn sie von ihrem seltsamen Gast abzuwenden. Ihre anfängliche Angst vor ihm ließ etwas nach, aber was folgte, war irgendwie sogar noch schlimmer: Grauen und ein unvernünftiger, irgendwie atavistischer Ekel. Jessie dachte später, dass die Ursache dieser Gefühle – der stärksten negativen Empfindungen, die sie je in ihrem Leben erfahren hatte, einschließlich derer, die sie vor kurzer Zeit
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