Das Spiel
Haus ächzen ließ und Schatten über das seltsame, halb sichtbare Gesicht trieb.
Dieses Mal stieg der Gedanke – Monster! Schreckgespenst! - aus den tieferen Ebenen ihres Denkens zur heller erleuchteten Bühne des Bewusstseins auf. Sie verleugnete ihn erneut, konnte aber spüren, wie die Angst sich wieder einstellte. Die Kreatur auf der anderen Seite des Zimmers konnte ein Mensch sein, aber selbst wenn, kam sie immer mehr zur Überzeugung, dass etwas mit seinem Gesicht nicht stimmte. Wenn sie nur besser sehen könnte!
Das möchtest du lieber nicht, riet ihr eine flüsternde, geheimnisvolle UFO-Stimme.
Aber ich muss mit ihm reden – muss Kontakt herstellen, dachte Jessie und antwortete sich sofort mit einer nervösen, keifenden Stimme, die sich wie eine Mischung aus Ruth und Goody anhörte: Betrachte ihn nicht als Monster, Jessie – betrachte ihn als Mann. Als Mann, der sich vielleicht im Wald verirrt hat, der ebenso verängstigt ist wie du.
Möglicherweise ein guter Rat, aber Jessie stellte fest, dass sie die Gestalt in der Ecke nicht als etwas Menschliches betrachten konnte, ebenso wenig wie sie den Streuner als etwas Menschliches betrachten konnte. Und sie dachte auch nicht, dass die Kreatur in der Ecke sich verirrt hatte oder ängstlich war. Sie spürte lange, langsame Wellen des Bösen aus dieser Ecke kommen.
Das ist albern! Sprich es an, Jessie! Sprich ihn an!
Sie wollte sich räuspern, stellte aber fest, dass es nichts zu räuspern gab – ihr Hals war so trocken wie eine Wüste und so glatt wie Speckstein. Jetzt konnte sie das Herz in der Brust pochen spüren, es schlug sehr leicht, sehr schnell, sehr unregelmäßig.
Der Wind schwoll an. Die Schatten bliesen weiße und schwarze Muster über Wände und Decke, so dass sie sich wie eine Frau in einem Kaleidoskop für Farbenblinde vorkam.
Einen Augenblick lang glaubte sie eine Nase zu sehen – dünn und lang und weiß unter den reglosen schwarzen Augen.
»Wer …«
Zuerst brachte sie nur dieses leise Flüstern zustande, das auf der anderen Seite des Bettes schon nicht mehr gehört werden konnte, geschweige denn auf der anderen Seite des Zimmers. Sie verstummte, leckte sich die Lippen, versuchte es noch einmal. Sie stellte fest, dass sie die Hände zu schmerzenden Ballen verkrampft hatte, und lockerte die Finger.
»Wer sind Sie?« Immer noch ein Flüstern, aber etwas besser als vorher.
Die Gestalt antwortete nicht, sondern stand nur da, ließ die schmalen weißen Hände an den Knien baumeln, und Jessie dachte: An den Knien? Knien? Unmöglich, Jess – wenn jemand die Arme hängen lässt, hören die Hände an den Oberschenkeln auf.
Ruth antwortete, aber ihre Stimme klang so gedämpft und ängstlich, dass Jessie sie fast nicht erkannte. Die Hände eines normalen Menschen hören an den Oberschenkeln auf, hast du das nicht gemeint? Aber glaubst du, ein normaler Mensch würde mitten in der Nacht in ein Haus schleichen und dann einfach in der Ecke stehen und zusehen, wenn er die Dame des Hauses ans Bett gekettet findet? Nur dastehen und sonst nichts?
Dann bewegte er ein Bein … oder es war wieder eine Täuschung der Schatten, diesmal im unteren Quadranten ihres Sichtfeldes. Die Verbindung von Schatten und Mondschein und Windböen verliehen der ganzen Episode etwas schrecklich Zweideutiges, und Jessie zweifelte wieder daran, ob der Besucher wirklich da war. Sie dachte an die Möglichkeit, dass sie immer noch schlief, dass ihr Traum von Wills Geburtstagsfest einfach eine merkwürdige neue Wendung genommen hatte … aber sie glaubte nicht so richtig daran. Nein, sie war wach.
Ob er das Bein nun bewegte oder nicht (oder ob es überhaupt ein Bein gab ), Jessies Blick wurde vorübergehend nach unten gelenkt. Sie dachte, sie könnte einen schwarzen Gegenstand sehen, der zwischen den Füßen der Kreatur auf dem Boden stand. Es war unmöglich zu sagen, was das sein mochte, weil der Schatten der Kommode diesen Teil des Zimmers zum dunkelsten überhaupt machte, aber plötzlich kehrte ihr Denken zum Nachmittag zurück, als sie Gerald davon zu überzeugen versuchte, dass sie wirklich meinte, was sie sagte. Da hatte sie nur den Wind gehört, die schlagende Tür, den bellenden Hund, den Eistaucher und …
Das Ding auf dem Boden zwischen den Füßen ihres Besuchers war eine Motorsäge.
Davon war Jessie sofort überzeugt. Ihr Besucher hatte sie vorhin schon benutzt, aber nicht, um Feuerholz zu sägen. Er hatte Menschen zersägt, und der Hund war geflohen, weil der
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