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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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dass sie von Anfang an Recht gehabt hatte, es war wirklich niemand hier bei ihr im Zimmer. Sie kam sich vor wie eine Wetterfahne im Griff der launischen, widersprüchlichen Böen, die manchmal kurz vor einem schlimmen Gewitter oder Wirbelsturm wehten.
    Dein Vater kann gar nicht von den Toten zurückkehren, sagte Goodwife Burlingame mit einer Stimme, die sich um Festigkeit bemühte und kläglich scheiterte. Dennoch zollte Jessie dem Versuch Achtung. Ob Hölle oder Hochwasser kamen, Goodwife blieb auf ihrem Posten und schöpfte unermüdlich. Das hier ist kein Horrorfilm oder eine Folge von Twilight Zone, Jess; das hier ist das wirkliche Leben.
    Aber ein anderer Teil von ihr – der Teil, der möglicherweise Heimat der wenigen Stimmen in ihr war, bei denen es sich um echte UFOs handelte, nicht nur die Abhörmikrofone, die ihr Unterbewusstsein einmal im bewussten Denken installiert hatte – beharrte darauf, dass es hier eine dunklere Wahrheit gab, etwas, was an den Fersen der Logik hing wie ein irrationaler (und möglicherweise übernatürlicher) Schatten. Diese Stimme bestand darauf, dass sich die Dinge in der Dunkelheit änderten. Ganz besonders änderten sie sich, sagte sie, wenn jemand allein war. Wenn das geschah, fielen die Schlösser von dem Käfig ab, der die Fantasie festhielt, und alles – alles Mögliche - konnte freigesetzt werden.
    Es kann dein Daddy sein, sagte dieser essenziell fremde Teil von ihr flüsternd, und Jessie nahm von einem Frösteln der Angst begleitet zur Kenntnis, dass es die Stimme von Wahnsinn und Vernunft zusammengenommen war. Er kann es sein, daran zweifle nicht. Bei Tage sind die Menschen fast sicher vor Geistern und Ghulen und den lebenden Toten, und sie sind normalerweise auch bei Nacht vor ihnen sicher, wenn sie mit anderen zusammen sind, aber wenn jemand allein im Dunkeln ist, ist alles möglich. Männer und Frauen allein im Dunkeln sind wie offene Türen, Jessie, und wenn sie rufen oder um Hilfe schreien, wer weiß, welch grässliche Wesen antworten? Wer weiß, was mancher Mann und manche Frau im Augenblick des einsamen Todes gesehen haben mag? Ist es so schwer zu glauben, dass einige vor Angst gestorben sind, was auch immer auf dem Totenschein stehen mag?
    »Das glaube ich nicht«, sagte sie mit nuschelnder, zitternder Stimme. Sie sprach lauter und bemühte sich um einen Nachdruck, den sie gar nicht empfand. »Du bist nicht mein Vater! Ich glaube nicht, dass du überhaupt jemand bist! Ich glaube, du bestehst nur aus Mondlicht!«
    Wie als Antwort bückte sich die Gestalt zu einer spöttischen Verbeugung, und einen Augenblick kam das Gesicht – ein Gesicht, das so wirklich zu sein schien, dass man nicht daran zweifeln konnte – aus den Schatten heraus. Jessie stieß einen krächzenden Schrei aus, als die fahlen Strahlen vom Oberlicht die Züge grellbunt wie bei einer Jahrmarktsfigur hervorhoben. Es war nicht ihr Vater; verglichen mit dem Bösen und dem Wahnsinn, die sie im Antlitz des Besuchers sah, hätte sie ihren Vater selbst nach zwölf Jahren im kalten Sarg Willkommen geheißen. Blutunterlaufene, tückisch funkelnde Augen betrachteten sie aus tiefen, von Runzeln gesäumten Höhlen. Dünne Lippen waren zu einem trockenen Grinsen aufwärtsgekrümmt und entblößten ausgeblichene Mahlzähne und unregelmäßige Schneidezähne, die fast so lang wie die Fangzähne des Streuners waren.
    Eine weiße Hand hob den Gegenstand, den sie zwischen den Füßen in der Dunkelheit halb gesehen und halb erahnt hatte. Zuerst dachte sie, es hätte Geralds Aktentasche vom Rücksitz des Mercedes geholt, aber als die Kreatur das kofferförmige Ding ins Licht hob, konnte sie sehen, dass es viel größer als Geralds Aktentasche war, und viel älter. Es sah aus wie die altmodischen Musterkoffer, die Handlungsreisende früher bei sich gehabt hatten.
    »Bitte«, flüsterte sie mit einer kraftlosen leisen Piepsstimme. »Was immer du bist, bitte tu mir nicht weh. Du musst mich nicht gehen lassen, wenn du nicht willst, das macht nichts, aber bitte tu mir nicht weh.«
    Das Grinsen wurde breiter, und sie sah ein schwaches Funkeln weit hinten im Mund – ihr Besucher hatte offenbar Goldzähne oder Goldfüllungen da drinnen, genau wie Gerald. Er schien tonlos zu lachen, als würde ihm ihre Angst Spaß machen. Dann öffneten die langen Finger die Schnallen der Tasche
    (Ich träume doch, glaube ich, jetzt ist es wie ein Traum, o Gott sei Dank, es ist wie einer)
    und öffnete sie für Jessie. Die Tasche war voller

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