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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Knochen und Juwelen. Sie sah Fingerknochen und Ringe und Zähne und Armreife und Ellen und Speichen; sie sah einen Diamanten, so groß, dass man ein Rhinozeros damit hätte ersticken können, im Mondschein milchige Trapezoeder aus dem Brustkasten eines Babys spiegeln. Sie sah das alles und wollte, dass es ein Traum wäre, ja, wollte, dass es so wäre, aber wenn es einer war, dann ein Traum wie sie noch nie einen gehabt hatte. Die Situation - mit Handschellen ans Bett gefesselt, während ein kaum sichtbarer Irrer stumm seine Schätze zeigte – war wie ein Traum. Die Stimmung jedoch …
    Die Stimmung entsprach der Wirklichkeit. Es gab kein Drumherum. Die Stimmung entsprach der Wirklichkeit.
    Das Ding in der Ecke hielt ihr den Koffer zur Begutachtung auf und stützte dabei mit einer Hand den Boden. Mit der anderen Hand griff es in das Durcheinander von Knochen und Geschmeide, rührte es um und erzeugte ein brüchiges Klickern und Rascheln, das nach schmutzverklebten Kastagnetten klang. Während es das machte, waren die irgendwie (embryonalen)
    unausgebildeten Gesichtszüge des seltsamen Antlitzes vor Heiterkeit verzerrt, der Mund zu dem stummen Grinsen aufgesperrt, die hängenden Schultern wogten in erstickten Lachsalven.
    Nein!, schrie Jessie, aber kein Laut kam heraus. Nein! Neeeein! Neeeeiiiiin!
    Plötzlich spürte sie, wie jemand – höchstwahrscheinlich Goodwife, und Mann, o Mann, wie sie den Schneid dieser Dame unterschätzt hatte – zum Sicherungskasten in ihrem Kopf rannte. Goody hatte die Rauchwölkchen aus den Ritzen der geschlossenen Türen dieses Kastens quellen sehen, hatte begriffen, was das bedeutete, und unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, die Sicherungen herauszudrehen und die Maschine abzuschalten, bevor die Motoren überhitzten und die Kugellager sich festfraßen.
    Die grinsende Gestalt auf der anderen Seite griff tiefer in den Koffer und hielt Jessie im Mondschein eine Handvoll Knochen und Gold entgegen.
    In ihrem Kopf zuckte ein unerträglich greller Blitz, dann gingen die Lichter aus. Sie wurde nicht hübsch ohnmächtig, wie die Heldin in einem Bühnenstück, sondern wurde brutal zurückgerissen wie ein verurteilter Mörder, der an den elektrischen Stuhl geschnallt war und gerade seine erste Ladung Saft abbekommen hatte. Wie auch immer, es war das Ende des Schreckens, und vorläufig genügte das. Jessie Burlingame ging ohne Einwände in die Dunkelheit.

14
     
     
     
    Einige Zeit später kämpfte sie sich kurz zum Bewusstsein zurück und bemerkte nur zweierlei: Der Mond hatte den Weg zu den Westfenstern zurückgelegt, und sie hatte schreckliche Angst … wovor wusste sie zuerst nicht. Dann fiel es ihr ein: Daddy war hier gewesen, war möglicherweise immer noch hier. Die Kreatur hatte ihm nicht ähnlich gesehen, das stimmte, aber das lag nur daran, dass Daddy sein Sonnenfinsternis-Gesicht getragen hatte.
    Jessie mühte sich hoch und stieß sich so fest mit den Füßen ab, dass sie die Decke unter sich nach unten schob. Aber mit den Armen konnte sie nicht viel ausrichten. Die kribbelnden Nadeln waren zwar verschwunden, während sie ohnmächtig gewesen war, und Jessie hatte nicht mehr Gefühl darin als in Stuhlbeinen. Sie sah mit aufgerissenen, mondversilberten Augen in die Dunkelheit neben der Kommode. Der Wind hatte sich gelegt, und die Schatten waren zumindest vorübergehend ruhig. In der Ecke war nichts. Ihr dunkler Besucher war verschwunden.
    Vielleicht nicht, Jess – vielleicht hat er nur den Standort gewechselt. Vielleicht versteckt er sich unter dem Bett, was meinst du dazu? Wenn ja, könnte er jeden Moment hochgreifen und dir eine Hand auf den Schenkel legen.
    Der Wind regte sich – nur ein Hauch, keine Bö -, und die Hintertür schlug schwach. Das waren die einzigen Geräusche. Der Hund war verstummt, und das überzeugte sie mehr als alles andere, dass der Fremde fort war. Das Haus gehörte wieder ihr allein.
    Jessies Blick fiel auf den großen dunklen Klops auf dem Boden.
    Ich korrigiere, dachte sie. Da ist noch Gerald. Den darf man nicht vergessen.
    Sie legte den Kopf zurück, machte die Augen zu und spürte ein konstantes, dumpfes Pochen im Hals, wollte aber nicht so wach werden, dass dieses Pochen sich zu dem entwickeln konnte, was es wirklich war: Durst. Sie wusste nicht, ob sie von schwärzester Bewusstlosigkeit in gewöhnlichen Schlaf überwechseln konnte oder nicht, aber sie wusste, dass sie das wollte; mehr als alles andere – außer vielleicht, dass jemand

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