Das Spiel
die weiter an den Beinen hinabreichten als es normale Hände eigentlich dürften. Eine unbekannte Zeitspanne verstrich auf diese leere Weise ( zwölf-zwölf-zwölf meldete die Uhr überflüssigerweise auf dem Frisiertisch), und dann kam sie ein wenig zurück, fing an zu denken, statt nur eine endlose Abfolge zusammenhangloser Bilder zu empfangen, hörte ihre Lippen Worte formen, nicht nur stammelnde Geräusche. Aber sie hatte sich weiterbewegt, während sie sich in dem leeren Terrain aufhielt; ihre Worte hatten nichts mehr mit den Handschellen oder den Schlüsseln auf der Kommode zu tun. Stattdessen hörte sie das dünne, hysterische Flüstern einer Frau, die nur noch um ihr Leben betteln konnte.
»Was bist du?« schluchzte sie. »Ein Mensch? Ein Teufel? Was in Gottes Namen bist du?«
Der Wind wehte böig.
Die Tür schlug.
Das Gesicht der Gestalt vor ihr schien sich zu verändern … schien sich zu einem Grinsen zu verziehen. Dieses Grinsen hatte etwas schrecklich Vertrautes an sich, und Jessie spürte, wie der harte Kern ihrer geistigen Gesundheit, der diesem Überfall bis jetzt mit bemerkenswerter Kraft standgehalten hatte, endgültig ins Wanken geriet.
»Daddy?«, flüsterte sie. »Daddy, bist du das?«
Mach dich nicht lächerlich!, schrie Goodwife, aber Jessie konnte spüren, wie selbst diese standhafte Stimme in Hysterie abglitt. Sei keine dumme Pute, Jessie! Dein Vater ist seit 1980 tot!
Statt zu helfen, machte das alles nur noch schlimmer. Viel schlimmer. Tom Mahout war in der Familiengruft in Falmouth beigesetzt worden, und die war keine hundert Meilen von hier entfernt. Jessies brennender, entsetzter Verstand beharrte jedoch darauf, ihr eine zusammengesunkene Gestalt zu zeigen, deren Kleidung und verfaulte Schuhe mit blaugrünem Schimmel verklebt waren, die über Felder im Mondschein schlurfte und durch Haine von Nadelwäldchen zwischen Vorstadthäuserblocks eilte; sie sah die Schwerkraft an den verwesten Armmuskeln ziehen und diese allmählich dehnen, bis die Hände neben den Knien baumelten. Es war ihr Vater. Es war der Mann, der sie mit drei Jahren auf den Schultern getragen und in Entzücken versetzt hatte, der sie mit sechs Jahren tröstete, als ein Zirkusclown sie zu Tränen erschreckt hatte, und der ihr Gutenachtgeschichten vorlas, bis sie acht war – alt genug, sagte er, sie selbst zu lesen. Ihr Vater, der am Tag der Sonnenfinsternis Rußfilter selbst geschwärzt und sie an diesem Nachmittag auf dem Schoß sitzen gehabt hatte, ihr Vater, der gesagt hatte: Sieh nur hin, Punkin, du musst keine Angst haben, dir kann nichts geschehen, aber sie hatte gedacht, vielleicht hatte er Angst gehabt, denn seine Stimme war belegt und zitternd und gar nicht wie seine sonstige Stimme gewesen.
In der Ecke schien das Ding breiter zu grinsen, und plötzlich war das Zimmer von diesem Geruch erfüllt, dem schalen, halb metallischen und halb organischen Geruch; ein Geruch, der sie an Austern in Sahne erinnerte und daran, wie die eigene Hand roch, wenn man Pennys umklammert hatte, und wie die Luft vor einem Gewitter roch.
»Daddy, bist du das?«, fragte sie den Schatten in der Ecke, und von irgendwo ertönte der ferne Schrei des Eistauchers. Jessie konnte spüren, wie ihr langsam die Tränen die Wangen hinabrannen. Und dann geschah etwas überaus Seltsames, etwas, mit dem sie in tausend Jahren nicht gerechnet hätte. Je überzeugter sie wurde, dass Tom Mahout dort in der Ecke stand, zwölf Jahre tot oder nicht, desto mehr fiel ihr Entsetzen von ihr ab. Sie hatte die Beine angezogen, aber jetzt ließ sie sie wieder nach unter rutschen und spreizte sie bequem. Dabei fiel ihr ein Bruchstück aus dem Traum ein – PAPAS LIEBLING war mit Peppermint Yum-Yum Lippenstift auf ihre Brust geschrieben.
»Also gut, mach schon«, sagte sie zu der schemenhaften Gestalt. Ihre Stimme klang ein wenig heiser, aber sonst gelassen. »Darum bist du doch zurückgekommen, oder nicht? Also los. Wie sollte ich dich auch aufhalten können? Versprich mir nur, dass du mich hinterher losmachst. Dass du mich befreist und gehen lässt.«
Die Gestalt ließ nicht die geringste Reaktion erkennen. Sie stand nur in ihrem surrealistischen Flimmern von Mondlicht und Schatten und grinste sie an. Und während die Sekunden verstrichen ( zwölf-zwölf-zwölf, sagte die Uhr auf dem Frisiertisch und schien damit anzudeuten, dass die ganze Vorstellung von verrinnender Zeit nur eine Illusion, dass die Zeit erstarrt war), desto überzeugter wurde Jessie,
Weitere Kostenlose Bücher