Das Spiel
Solomon-Felsens«, kam die hastige Antwort. »Da links. Manchmal, an klaren Tagen, kann man dort im Wasser einen runden grünen Kreis sehen.«
Solomon. Was für ein merkwürdiger Name, dachte Julia.
»Julia!« Wieder diese Stimme von Chris, die in ihr Bewusstsein drang, die in die Schwärze vorstieß, in die sie sich zurücksehnte. »Was ist bloß los mit dir? Hier geht es um deinen Bruder! Wenn du uns nicht hilfst, ertrinkt er!«
Plötzlich fühlte sie, wie Hände sie packten und sie hochzerrten. Und da endlich! Endlich fiel die Lähmung von ihr ab und das Leben kam zurück.
Julia stieß Chris weg, sprang auf und rannte Richtung See, überquerte den Steg, der ihr plötzlich unendlich lang erschien. Immer wieder musste sie sich durch die Menge kämpfen, die ihr entgegenstarrte.
Die Gesichter zeigten unterschiedliche Reaktionen, die von blankem Entsetzen bis hin zu hysterischer Neugierde reichten. Leises Gemurmel und in allen Gesichtern las sie Verwunderung und Entsetzen. Nein, einige grinsten auch. Julia konnte es nicht nachvollziehen. Was, verdammt noch mal, gibt es da zu grinsen, wollte sie brüllen.
Ein Blitz erhellte den Himmel. Eine weiße gezackte Linie. Wie ein Pfeil war sie auf den winzigen roten Punkt im See gerichtet. Auf Robert, dessen schmale Arme durch das Wasser pflügten, während sich seine mickrige Gestalt in dem roten Pullover parallel zum Ufer vorankämpfte, immer dem Felsen entgegen, der Julia vorhin schon aufgefallen war.
Chris drängte sich hinter Julia durch die Menge. »Verdammt«, hörte sie ihn jetzt rufen. Er starrte nach links. »Was macht er denn da? Am Solomon-Felsen gibt es kein richtiges Ufer, nur ein schmales Felsplateau. Nicht breiter als ein, zwei Meter. Dann beginnt die Felswand und die ist so steil, dass man sich kaum festhalten kann! Da kommt er nie hoch!«
»Keine Sorge, Julia«, Rose war plötzlich an Julias anderer Seite und drückte ihre Hand. »Bestimmt verfügt das College über ein Schnellboot. Alex versucht schon die Security zu erreichen.«
Das Gewitter war noch weit entfernt, doch der Himmel über dem Gletscher war schwarz, als sei dort oben bereits Nacht. Der Wind wurde stärker und der See war nun alles andere als spiegelglatt. Die Böen peitschten das Wasser auf und ließen es in Wellen gegen das Ufer schlagen. Es war beängstigend, mit welcher Schnelligkeit und Gewalt das Wetter umschlug.
Julie spürte, wie es um sie herum still wurde. Nur Debbie schluchzte hysterisch und rief: »Er ist verrückt geworden! Er ist durchgedreht!«
Julia sah Roberts Kopf im Wasser auftauchen. Sie spürte förmlich, wie er verzweifelt nach Luft rang.
Sie bückte sich, um ihre Schuhe auszuziehen. Jetzt, wo diese unwirkliche Lähmung von ihr abgefallen war, wusste sie, was sie zu tun hatte.
»Robert«, schrie sie. »Du musst durchhalten!«
Endlich hatte sie Schuhe und Strümpfe abgestreift. Im nächsten Moment stand sie bereits auf der Kante des Bootsstegs und hob die Arme.
»Nein, Julia! Tu das nicht!« Rose’ Gesicht tauchte auf und ihr Arm schlang sich fest um sie.
»Lass mich los! Ich muss … er hat nicht genug Kraft, das siehst du doch! Er schafft es nicht!«
Die Holzbohlen unter ihren nackten Füßen waren nass, glitschig und eiskalt. Aber Julia ignorierte es. Sie stieß Rose zur Seite und wollte gerade springen, als jemand sie zurückriss.
Davids Blick war entschlossen.
»Du kennst diesen See nicht!«, sagte er, und bevor Julia es noch begriff, war er im Wasser verschwunden und folgte Robert mit schnellen, kräftigen Zügen.
*
»David ist gleich bei ihm.« Rose nahm wieder Julias Hand in ihre. Das Mädchen zitterte. Ihr Gesicht war leichenblass und zeigte eine Mischung aus Mitgefühl und Angst.
David folgte Robert schneller, als es Julia möglich schien. Obwohl die Wellen ihn behinderten, verringerte sich mit jedem Eintauchen der Hände der Abstand zu ihrem Bruder. Offenbar spürte David den Rhythmus des Windes, denn er nutzte die Pausen, um vorwärtszukommen, bevor der Sturm Energie für den nächsten Angriff sammelte. Für einige Sekunden schien die Welt in einzelne Bildersequenzen zerlegt wie bei einem Trickfilm.
David war jetzt nur noch circa fünfzig Meter hinter Robert. Ein Aufschrei ging durch die Menge, als eine mächtige Welle Robert erfasste und unter Wasser drückte.
In den letzten Minuten hatte sich der Lake Mirror völlig verändert. Fast schien es, als wüte er mit aller Kraft gegen die beiden Menschen, die seine Stärke nicht
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