Das Spiel
was, wenn er nicht lügt, sondern einfach die Wahrheit sagt?«, fauchte sie. »Sie selbst haben doch eben gesagt, dass ein Mädchen verschwunden ist! Wie können Sie dann hier noch so ruhig sitzen?«
Auf Mr Waldens Gesicht erschien dieser arrogante Ausdruck, den Julia nur allzu gut kannte. Erwachsene sahen immer so aus, wenn sie die Gelegenheit hatten, sich mit ihrem Insiderwissen zu brüsten. Wenn sie die Chance sahen, allen unter Zwanzigjährigen das Gefühl zu vermitteln, sie seien völlig unreif, hätten keinen blassen Schimmer vom Leben.
»Ja, es ist tatsächlich ein Mädchen verschwunden, Miss Frost. Keiner hat sie seit gestern Abend mehr gesehen und ganz offensichtlich ist sie heute Nacht nicht in ihrem Zimmer gewesen.«
»Dann stimmt es doch, was ich sage!« Julia sah Zuversicht in Roberts Augen aufglimmen.
»Nun … dieses Mädchen ist zwar seit gestern Abend wie vom Erdboden verschluckt, aber sie ist mit Sicherheit nicht von diesem Felsen gesprungen.« Der Direktor schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist schlichtweg unmöglich!«
»Aber …«
»Kein Aber!« Der Dekan erhob sich und trat ans Fenster. Er starrte auf die Berge, die sich hinter dem See auftürmten, als hätte dieser sie vor Urzeiten von ihrem Platz verdrängt. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum. Sein Blick war nicht länger verwässert und trübe, als er Robert scharf ins Auge fasste. »Ich glaube Ihnen nicht, Mr Frost. Es sei denn, Sie sind in der Lage, mir eine plausible Erklärung dafür zu liefern, wie eine Querschnittsgelähmte mit ihrem Rollstuhl auf diesen Felsen gekommen ist, aufsteht und dann springt.«
*
Angela Finder? Angela Finder war es, die verschwunden war? Julia fühlte, wie ihr schwindelig wurde und die Enttäuschung sich wie ein bitterer Geschmack auf ihre Zunge legte.
Damit war es nicht mehr zu leugnen. Robert hatte tatsächlich mal wieder eine von seinen Geschichten erzählt. Und wenn sie einen Moment nachgedacht hätte und sich nicht von diesen verdammten Schuldgefühlen hätte auffressen lassen, wäre ihr das auch klar gewesen!
»Aber …«, stotterte Robert und starrte Julia Hilfe suchend an. Sie rührte sich nicht.
Der Direktor setzte sich, stützte wieder die Hände auf den Tisch, dann beugte er sich nach vorne, doch sein eindringlicher Blick hatte nun nichts Sanftes mehr an sich. »Ich habe bereits die Polizei verständigt. Der Zufahrtsweg zum Tal ist durch umgestürzte Bäume unpassierbar. So ein Gewitter hatten wir lange nicht mehr im Tal. Aber der Sicherheitsdienst ist seit den frühen Morgenstunden unterwegs, um nach Miss Finder zu suchen.« Er schwieg einige Sekunden und fuhr dann fort: »Robert, ich erwarte jetzt von Ihnen, dass Sie mir die Wahrheit sagen.«
Julia hielt den Atem an. Doch Robert blieb ganz ruhig. »Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen, Sir. Ich habe ein anderes Mädchen gesehen. Das Mädchen, das ich meine, saß nicht im Rollstuhl. Sie hatte blaue Haare und trug einen grünen Badeanzug.«
Als sie wieder draußen auf dem Flur waren und zurück zu den Seminarräumen gingen, konnte Julia sich nicht länger beherrschen. »Robert, ich meine es ernst. Du musst sofort damit aufhören!«
»Womit?« Robert schaute sie verwundert an.
»Mit deinen Geschichten.«
Er blieb stehen, neigte den Kopf zur Seite, als überlege er. »Das ist nicht fair. Vielleicht leide ich tatsächlich unter Einbildungen und Visionen, aber eines ist sicher …«, nun wurde seine Stimme lauter, »das Mädchen ist gesprungen. Es war nicht Angela. Und nein, ich lüge nicht!«
Sie packte ihn an der Schulter und zwang ihn, stehen zu bleiben. »Dein ganzes Leben ist eine Lüge. Hast du das vergessen?«
Der Blick, den er ihr entgegenschleuderte, bevor er sich umwandte und losrannte, traf Julia bis ins Mark.
Blind vor Verzweiflung drehte sie sich um und wäre fast mit Debbie zusammengeprallt, die direkt hinter ihr stand. Aus ihren Augen blitzte ultimative Neugierde.
Kapitel 15
[B wie Beweis]
Roberts Interesse an der Mathematik beruhte auf ihrer strengsten Genauigkeit und den rigorosen Regeln. Aber die eigentliche Begeisterung für das Fach rührte schlichtweg daher, dass die Mathematik auf Beweisen basierte. Nach den Ereignissen in den letzten Monaten gab das alles Robert die Sicherheit, nach der er sich so dringend sehnte. Ein Problem konnte noch so kompliziert sein, am Ende stand immer eine einfache Antwort. Also genau das Gegenteil zu seinem derzeitigen Leben.
Keine Behauptung ohne Beweis! Dieser Satz
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