Das Spiel
sie führen musste?
Neid auf andere, die keinen Unfall gehabt hatten?
Wie auch immer: Es konnte viele Gründe für Angelas Verhalten geben, und sei es auch einfach nur die Lust, andere zu quälen.
Julia atmete einmal tief ein und aus. Sie spürte, wie sie sich langsam dem Kern der Sache näherte. Die unterschiedlichsten Gedanken und Gefühle stürzten auf sie ein, aus denen besonders einer sich immer wieder an die vorderste Stelle schob: Wenn jeder hier im Tal Angela Finders Opfer gewesen sein konnte, so kam auch jeder als Täter infrage. Im Grunde sogar sie selbst.
Und Katie. Ein Gedanke, den Julia nur allzu gerne verdrängt hätte. Aber er schob sich immer wieder hartnäckig an die Oberfläche. Julias Mitbewohnerin hätte ein eindeutiges Motiv gehabt, Angela zu ermorden. Nicht nur, dass dieses Mädchen im Rollstuhl in ihrer Mail Katie gedroht hatte, nein – Katie war umgekehrt Angela auf die Schliche gekommen. Das wiederum bewies ihre Notiz in der Mail. Und sie hatte die Gelegenheit zum Mord gehabt.
Das Einzige, was die Polizei über Angelas Tod gegenüber den Medien offiziell bestätigt hatte, war der Zeitpunkt ihres Todes. Laut Obduktionsbericht war Angela irgendwann zwischen 18:00 und 22:00 Uhr gestorben. Zusammengenommen mit der Tatsache, dass Julia sie selbst noch vor dem Abendessen gesehen hatte, hieß das nichts anderes, als dass Angela in dem Zeitraum während der Party und des Gewitters danach ums Leben gekommen war.
Katie war nicht auf der Party gewesen – hatte also auch kein Alibi.
Und mit ihr Hunderte andere Collegestudenten und Dozenten, rief Julia sich ins Gedächtnis.
Sie streckte ihren Rücken und sah zum Himmel hinauf, der in einem so hellen Blau strahlte, dass er ihr wie ein Hohn auf ihre düsteren Gedanken erschien.
Warum – warum hatte die Polizei das alles bisher nicht herausgefunden?
Na, warum wohl, Julia?
Das fragst du dich noch? Vertraust du dieser Institution wirklich? Denk an deinen Vater! Hast du nicht am eigenen Leib erfahren, dass Misstrauen die wichtigste Fähigkeit ist, um zu überleben? Beruht nicht dein und Roberts Schicksal genau darauf, dass die Polizei Fehler macht? Furchtbare Fehler?
Julia stand von der Bank auf und ging vor der Hütte auf und ab. Die Fenster, blind vom Schmutz der letzten Jahre, ließen keinen Blick ins Innere zu. Die Tür hing in den Angeln, das Schloss sah aus, als wäre es irgendwann einmal gewaltsam aufgebrochen worden.
Julia lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie rührte nicht allein daher, dass sie sich der Tatsache bewusst geworden war, im Tal mit einem kaltblütigen Mörder zusammenzuleben, der ein wehrloses Mädchen im See ertränkt hatte.
Es war etwas anderes.
Wenn sie etwas während der letzten Wochen hier oben gelernt hatte, dann Folgendes: Das Tal barg viele Geheimnisse und alles in allem gingen hier Dinge vor sich, die außerhalb ihres Verstandes lagen.
Entschlossen wandte sie sich um. Denn ebenso wie ein grundlegendes Misstrauen sowohl Roberts wie auch ihr eigenes Überleben sicherte, konnte sie doch ihr Problem nicht alleine lösen. Jeder Mensch war auf seine eigene Art und Weise auf die Hilfe anderer angewiesen. Und mit jedem Schritt, den sie zum College zurücklegte, wurde ihr diese Tatsache klarer.
Auf dem Uferweg des Lake Mirror wusch sie sich das Gesicht im Wasser. In der glatten, ruhigen Oberfläche des Sees starrte Julia ein Gesicht entgegen. Doch nicht sie war es, die sich im See spiegelte, nicht Everybody’s Darling, sondern ihr früheres Ich, das entschieden hatte, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
*
Ein Blick auf die Uhr zeigte 17:55 Uhr.
Eines der Dinge, die sie als Erstes tun musste, war, endlich Kontakt aufzunehmen. Die Postkarte, die sie erhalten hatte, enthielt im Grunde verschlüsselt die Sorge darüber, dass sie und Robert sich noch nicht gemeldet hatten. Zu den vielen Überlegungen, die sie auf dem Rückweg von der Hütte angestellt hatte, gehörte außerdem die Frage, weshalb Angela Finder, die Königin der Hacker, die Queen des World Wide Web, den Zeitungsartikel vom Berliner Tagesspiegel per Post erhalten hatte.
Warum bekam jemand Briefe, wenn er doch Zugriff auf jedes Onlinearchiv hatte? Aber war die Antwort nicht offensichtlich? Gerade jemand wie Angela Finder hatte gewusst, dass jeder Schritt im Web Spuren hinterließ. Und Angela war auf eine verblüffend einfache Lösung gekommen – langsam wie eine Schnecke, aber zuverlässig.
Als Julia in ihr Apartment zurückkehrte, waren
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