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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
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schwindende Nachmittagslicht und ein leichtes Schneegestöber.
    Ein Tagzehnt verging, dann noch eines, und Briony schleppte sich westwärts, stahl genug zum Überleben, wo immer sich die Gelegenheit bot, zumeist von jenen, die am wenigsten hatten und am wenigsten in der Lage waren, ihre Habe zu schützen. Scham und Hunger beutelten sie im Wechsel, je mehr das eine zunahm, desto geringer wurde das andere. Ihre Wunden und ihr schmerzender Kiefer waren weitgehend verheilt, aber der Husten war jetzt immer da, quälend und beängstigend tief sitzend. Und je härter es wurde, je mehr Hunger und Krankheit ihr Denken vernebelten, desto verlockender erschienen ihr die beiden Möglichkeiten, sich zu stellen oder zu sterben.
     
    Briony starrte benommen auf die Brücke, den dunklen, trägen Fluss und die leere Landschaft zu beiden Seiten. Der Himmel war wie aus Schiefer.
    Der Waisentag und der Jahreswechsel sind schon vorbei.
Aber die Glocken zu Onir Zakkas' Tag hatten erst vor ein paar Abenden geläutet, in der letzten Ortschaft an ihrem Weg, die groß genug gewesen war, um einen Tempel (oder eher einen Schrein, so weit draußen auf dem Land) zu besitzen, was hieß, dass Dimene noch nicht einmal angebrochen war — das Gestrimadi-Fest hatte noch nicht begonnen. Ein schrecklicher Gedanke — noch mindestens zwei Monate Winter, und das Schlimmste kam erst noch!
    In ihrer Erschöpfung war sie einfach dem Karalsweg immer weiter nach Süden gefolgt, noch unentschieden, ob sie nach Hierosol oder nach Syan gehen sollte, doch in ihrem tiefsten Herzen wusste sie, dass sie keins von beiden erreichen würde. Je weiter sie nach Süden kam, desto verstreuter lagen die Dörfer — aus dem letzten war sie vor zwei Tagen von einer Horde betrunkener Männer verjagt worden, die sie als Seuchenüberträgerin beschimpft hatten —, und in der menschenleeren Gegend bis zur syanesischen Grenze würde es noch weniger Ansiedlungen geben. Allmählich überwältigte sie die Verzweiflung.
    Ihre ganze Kindheit hindurch war Briony auf ein Leben in einer wichtigen Position vorbereitet worden, aber was hatte sie wirklich gelernt? Nichts Nützliches. Sie wusste nicht einmal, wie man Feuer machte. Mit einem Flintfeuerzeug hätte sie es wahrscheinlich noch geschafft, aber sie hatte die letzten Kupfermünzen, die ihr Shaso gegeben hatte, für Brot und Käse ausgegeben, ehe ihr klar geworden war, dass Wärme noch wichtiger sein könnte, als etwas im Magen zu haben. Sie verstand auch weder etwas vom Jagen noch vom Fallenstellen und wusste nicht einmal, welche Wildpflanzen man essen konnte, ohne sich zu vergiften — alles Dinge, die jeder Kätnerssohn leicht bewältigt hätte. Stattdessen hatten ihre Hoflehrerinnen sie Singen, Nähen und Lesen gelehrt, aber die Bücher, die sie ihr gegeben hatten, hatten immer das Gleiche enthalten: romantische Versdichtungen oder nutzlose Geschichten über die großen Götter und ihre Abenteuer, vor allem lehrreiche Parabeln von der sanftmütigen Zoria und ihren beispielhaft ertragenen Leiden.
    Und jetzt stand sie hier in einem nahezu unbewohnten Landstrich und starrte mutlos auf die Brücke über den schlammigen Elusin. Etwas über Leiden zu lernen, war unnötig — das lehrte einen die Erfahrung bald genug. Zu lernen, wie man
nicht
litt, wäre viel praktischer gewesen.
    Aus dem Unterricht ihres Bruders und dem, was ihr Vater ihr erzählt hatte, wusste Briony gerade noch, dass die Gegend auf der anderen Seite des Elusin das Jammermoor genannt wurde. Dieses tückische Sumpfland erstreckte sich fast bis zu den Seen des nördlichen Syan — kalter, schwarzer Morast und keinerlei Schutz vor dem eisigen Wind und den heftigen Schneestürmen, die dort den Winter kennzeichneten. Sie war bis hierher gewandert, ohne groß nachzudenken, und konnte jetzt nirgends hin außer zurück in die Ortschaften, wo ihr bereits so wenig Glück beschieden gewesen war, oder ostwärts nach Gronefeld, den Landen der Tollys, oder weiter südwärts auf dieser immer schmaler werdenden Straße durch das Moor und dann um die Seen und über die Berge ins ferne Syan und ins noch fernere Hierosol, was hieße, nur beten zu können, dass sie in diesen riesigen, öden Sümpfen auf irgendwelche menschlichen Behausungen stieß, wo man ihr wohlgesonnen war.
    Briony sank auf die Knie. Jetzt sah sie gar nichts, außer dem Schilf um sie herum, dessen Kolben sich im Wind wispernd aneinanderrieben. Sie hustete und spuckte aus. Der Schleim war mit Blut durchsetzt. An Syan

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