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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
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Geschichten über das freie Räuberleben, die sie je gehört hatte, schienen ihr jetzt grausame Lügen. Selbst in einem milden Winter wie diesem war es nicht möglich, im Freien zu leben, nicht einmal mit der Göttergabe des wollenen Mantels, den sie bei ihrer Flucht aus dem
Hadar
noch mitgenommen hatte. Briony verbrachte große Teile eines jeden Tages einfach nur damit, eine unbewachte Scheune oder einen Schuppen zu suchen, wo sie schlafen konnte, ohne zu erfrieren. Trotzdem hatte sie schon nach wenigen Nächten einen schlimmen Husten.
    Der Husten und ihr schmerzender Mund (der sich noch immer nicht von Talibos Schlag erholt hatte) machten das Essen schwer, daher weichte sie Brot in dem kleinen Krug Wein ein und kaute es dann langsam und vorsichtig, um ihre lockeren Zähne und aufgeplatzten Lippen nicht mehr zu strapazieren als nötig. Doch ihr winziger Proviantvorrat war nach zwei Tagen aufgebraucht.
    Das Einzige, was sie zunächst rettete, waren die vielen kleinen Dörfer und Weiler entlang der Küstenstraße westlich von Landers Port. Sie zog von einer Ortschaft zur nächsten, kroch unter, wo sich eine Gelegenheit bot, und fand ab und zu ein paar unbewachte Brocken von etwas Essbarem. Sie konnte es nicht riskieren, irgendwie aufzufallen, da ihre Feinde zweifellos nach ihr suchten, deshalb traute sie sich nicht, in der Öffentlichkeit zu betteln. Doch trotz ihres Hungers tat sie ihr Bestes, richtigen Diebstahl zu vermeiden — weniger aus moralischen als aus praktischen Gründen: Was nützte es ihr, einem Anschlag auf ihr Leben entkommen zu sein, wenn sie ergriffen und in einem Nest mitten im Nichts eingesperrt würde?
    Doch schon nach wenigen Tagen wurde der wühlende Hunger übermächtig. Briony hatte in ihrem ganzen Leben noch nie längere Zeit Hunger gehabt, und es war für sie eine schmerzliche Entdeckung, wie allbeherrschend er war, wie er alle anderen Gedanken verdrängte. Ihr Husten wurde auch immer schlimmer, er schwächte sie so, dass ihr ganz schwindelig war. Manchmal stolperte sie einfach nur aus Schwäche mitten auf der Straße und fiel hin. Sie wusste, sie konnte nicht mehr lange weitermachen, ohne zur Bettlerin oder zur Diebin zu werden. Und sie befand, dass sie lieber Ersteres riskieren wollte — für Bettelei wurde man wenigstens nicht gehängt.
    Der erste Ort, dem sie sich auf der Suche nach Almosen näherte, ein Gehöft am Rand eines namenlosen Weilers am Karalsweg, der Marktstraße, die sich von der Küstenstraße nach Süden wand, erwies sich als wenig bettlerfreundlich: Noch ehe sie ein Wort zu dem wirrhaarigen Mann in der Tür sagen konnte, trat er beiseite und ließ einen riesigen, scheckigen Hund heraus. Das Tier stürzte auf sie zu wie die Wütende Bestie auf Hiliometes, und sie konnte gerade noch über die niedrige Mauer flüchten, ehe das geifernde Maul zupackte. Aber sie zerriss sich dabei den wollenen Mantel an einem Stein, was ihr fast so wehtat, als wäre ihr eigenes Fleisch verletzt. Sie zog sich in den Wald zurück, noch immer krank, hungrig und von ihren Verletzungen geplagt, und obwohl sie sich dafür hasste, weinte sie.
    Sie versuchte es am anderen Ende des Weilers noch einmal, mit etwas mehr Erfolg — allerdings nicht, weil sie hier auf die Barmherzigkeit gestoßen wäre, von der die Tempelpriester immer so feierlich sprachen. Der Besitzer dieser elenden Kate war nicht zu Hause, und wenn sich auch in dem rußgeschwärzten Raum nicht viel mehr befand als eine Lagerstatt, bestehend aus einem mit Laub ausgestopften Sack und einer einzigen zerschlissenen Wolldecke, so stieß sie doch auf einen Eisentopf mit kalter Suppe, der, mit einem Holzteller zugedeckt, unterm Tisch stand. Sie schlang die Suppe gierig hinunter, und erst, als sie fertig war — und ihr Magen so voll, dass er eher an ihr zu hängen als ein Teil von ihr zu sein schien —, wurde ihr bewusst, dass sie gestohlen hatte und noch dazu von einem ihrer ärmsten Untertanen. In einem Anfall von Schuldgefühl, das nur aufkommen konnte, weil ihr Hunger für den Moment gestillt war, erwog sie, auf die Rückkehr des Kätners zu warten und ihm eine Entschädigung anzubieten, aber ihr wurde schnell klar, dass sie außer ihren Kleidern, ihren Yisti-Dolchen und ihrer Jungfräulichkeit — die sie allesamt nicht hergeben wollte — nichts anzubieten hatte. Dennoch sorgte ihr schlechtes Gewissen dafür, dass sie nicht, wie sie ursprünglich vorgehabt hatte, auch noch die Decke stahl. Zerknirscht stolperte sie hinaus ins

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