Das Spiel
der Herzoginwitwe nicht verdenken, dass sie sich beschwerte. Obwohl sie selbst gesund und in guter Verfassung und zudem mit ihrem schlichten Gewand praktischer gekleidet war, behagte diese Übung ihren alten Knochen auch nicht besonders.
Als sie auf den Fersen saßen, trugen ein kleiner Trupp Soldaten und drei Winzlinge mit kahl geschorenen Köpfen (aus deren fein geschnittenen Gesichtern Utta schloss, dass es sich um Frauen handelte) ein gepolstertes Bett herbei, das offensichtlich einmal ein Schmuckkästchen gewesen war. Das Bündel aus der obersten Schublade wurde darauf hinabgesenkt und ausgewickelt. Zum Vorschein kam eine Dachlingsfrau mit dunklem Haar und blasser Haut. Sie schlief oder war tot.
»Hiermit stell ich Euch vor die ruhmreiche und unfehlbare Lauscherin«, sagte die Königin, »deren Familie schon seit Jahrhunderten unsre Verbindung zum Herrn des Höchsten Punktes stellt und die nun heute erstmals das Wort des Herrn mit Euresgleichen teilen wird.«
Die drei Priesterinnen, wenn es denn welche waren, traten vor und postierten sich am Kopf und zu beiden Seiten der Lauscherin. Sie entzündeten Gefäße mit etwas Rauchendem, schwenkten sie über ihr und verfielen in einen Singsang, der zu leise war, als dass ihn Utta hätte verstehen können. So ging es eine ganze Weile; Utta fühlte, wie Merolanna neben ihr unruhig wurde. In dem stillen Raum war das Knistern und Rascheln ihrer Kleider ungeheuer laut.
Endlich traten die Priesterinnen zurück und blieben mit gesenkten Köpfen stehen. Im Raum herrschte weiter Stille. Utta fragte sich schon, ob die Dachlinge vielleicht erwarteten, dass sie oder Merolanna eine Frage stellte. Doch dann regte sich die Frau auf dem Bett. Zuerst zuckte sie nur wie im Fiebertraum, dann begann sie, sich hin und her zu werfen. Plötzlich setzte sie sich auf. Ihre Augen öffneten sich weit, doch sie schien nichts im Raum zu sehen, nicht einmal die beiden riesigen Frauen. Sie sprach mit überraschend tiefer Stimme — eine undeutliche Aneinanderreihung leiser Laute, fast wie das Summen von Bienen.
»Was sagt sie?«, fragte Merolanna.
»Sie sagt nichts«, korrigierte sie die Dachlingskönigin. »Es ist der Herr des Höchsten Punkts selbst, der spricht, und
er
sagt:
›Das Ende dieser Tage kommt auf weißen Schwingen, doch es trägt Dunkel in sich wie ein Ei. Es wartet die Alte Nacht auf ihre Geburt, und wenn nicht das Meer alles verschlingt, werden die Sterne selbst vom Himmel regnen wie flammende Pfeile.‹
Das sind die Worte des Herrn der Hohen Gefilde.«
Eine vage Weltuntergangsprophezeiung war nicht das, worauf die Herzogin wartete. »Fragt nach meinem Sohn«, zischte sie. Aber Utta spürte, dass in diesem Moment ein Handel geschlossen wurde, wenn sie auch nicht wusste, mit wem ihn die Herzogin einging — mit den Dachlingen und ihrer Königin? Mit deren Gott? Oder einfach nur mit diesem Dachlingsorakel?
»Man hat uns gesagt, Ihr wüsstet etwas über den Sohn dieser Frau, o Herr des Höchsten Punkts«, sagte Utta langsam und deutlich in der Hoffnung, dass, wenn die Dachlinge ihre Sprache sprachen, der Gott ihrer ebenfalls mächtig war. »Wollt Ihr uns etwas über ihn mitteilen?«
Die Frau warf sich wieder hin und her und fiel fast von ihrem Bett. Zwei winzige, kahl geschorene Priesterinnen traten zu ihr und hielten sie, während sie wieder zu murmeln begann.
»›Die Hohen haben ihn geholt, vor fünfzig Wintern«,
übersetzte die Königin das leise Gemurmel der Lauscherin, oder vielleicht gab sie es ja nur lauter wieder.
»›Er wurde hinter die Wolke des Unwissens verschleppt, welche die Sterblichen die Schattengrenze nennen. Doch er ist noch am Leben.‹«
Merolanna stieß einen leisen Schrei aus, wankte und sank gegen Utta, die sich bemühte, sie aufrecht zu halten. Wenn die Herzogin mit ihrer Körpermasse zu Boden fiele, würde sie das Tempelviertel der Dachlinge weitgehend zerstören. »Sie wird sich für diese Nachricht dankbar zeigen — nur nicht heute, glaube ich«, sagte Utta, ein wenig außer Atem. Sie bückte sich zu Königin Altania hinab. »Könnt Ihr uns nicht mehr sagen?«, flüsterte sie. »Gibt es eine Möglichkeit, ihr Kind zu finden?«
Eine ganze Weile lag die Lauscherin da wie eine Tote — ähnlich wie Merolanna, die ohnmächtig schien. Dann regte sich die kleine Gestalt wieder und sprach abermals, aber so leise, dass Utta nur die Bewegung ihrer Lippen sah. Selbst die kleine Königin musste sich über das Geländer ihres Prunkwagens beugen, um etwas
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