Das Spiel
zu verstehen.
»Der Herr des Höchsten Punkts sagt:
›Die Not der Welt ist groß. Die Alte Nacht pickt an ihrer Schale und lechzt danach, die Luft der Zeit zu atmen. Der Priester dieser Feste, Priester des Lichts und der Sterne, besaß einst ein Stück vom Haus des Mondes, uralt und voller Macht, doch jetzt ward es entwendet. Findet heraus, wo dieses Stück geblieben ist, und dafür wird Euch der Himmel mehr über den Sohn dieser Sterblichen sagen.‹«
Und damit fiel die Lauscherin in einen tiefen, todähnlichen Schlaf. Als klar war, dass sie keine Worte des Gottes mehr übermitteln würde, wickelten die Priesterinnen sie wieder ein. Diesmal kamen winzige Soldaten herbei und trugen das gesamte Bett ins Schattendunkel wie einen Katafalk.
Utta hielt Merolanna, die stöhnte, als träumte sie einen bösen Traum, und staunte über die unfassbaren Dinge, die dieser Tag gebracht hatte.
Die Herzogin regte sich in ihrem Bett, setzte sich auf und griff mit den Händen ins Leere, als hätte man ihr etwas entrissen. »Wo sind sie? Habe ich geträumt?«
»Ihr habt nicht geträumt«, sagte Utta. »Es sei denn, ich hätte denselben Traum gehabt.«
»Aber was haben diese kleinen Geschöpfe noch gesagt? Ich kann mich nicht erinnern!« Merolanna tastete nach dem Becher mit verdünntem Wein auf der Truhe neben ihrem Bett und trank so hastig, dass ihr ein rosa Rinnsal übers Kinn lief.
Utta wiederholte den restlichen Spruch des Orakels. »Aber ich verstehe es nicht.«
»Mein Kind!« Merolanna sank in die Kissen, und ihr Busen wogte. »Ich habe es weggegeben«, stöhnte sie, »und jetzt haben es die Zwielichtler. Der arme, arme Junge!« Stockend erzählte sie Utta von der heimlichen Geburt und dem Verschwinden des Kindes. Utta war überrascht, aber nicht schockiert — die Zorienschwestern glaubten nicht an die Vollkommenheit des Menschen, nur an die göttliche Vergebung.
»Wenn es stimmt, was die kleinen Leutchen gesagt haben, ist das fast fünfzig Jahre her, Euer Gnaden«, erklärte sie Merolanna. »Dennoch müssen wir versuchen, die Worte des Gottes zu verstehen — wenn es denn ein Gott war, der gesprochen hat. Ein Stück vom Haus des Mondes, hat diese kleine Frau gesagt. Und dass es einst dem Priester des Lichts und der Sterne hier auf der Burg gehört hat.«
»Priester? Meinen sie Vater Timoid? Aber der ist doch weg!« Merolanna warf den Kopf hin und her wie im Fieber. »Warum sollte irgendein Gott eine solche Botschaft schicken, nur um mich zu foltern?«
»Vielleicht meinen sie ja Hierarch Sisel.« Utta ergriff die Hand der Herzogin in der Hoffnung, sie so beruhigen zu können. »Er ist schließlich der oberste aller Priester, also ...«
»Der ist doch auch weg, in seinem Haus auf dem Land. Er hat mir erklärt, er könne das Treiben der Tollys nicht mit ansehen.« Merolanna versuchte sich zu fassen. »Aber wäre er denn ein Priester des Lichts und der Sterne? Er ist der Hohepriester des Trigon, und das ist Luft, Wasser und Erde ...« Sie stöhnte wieder. »Ach, wenn doch nur Chaven hier wäre. Er weiß solche Dinge — er studiert die Sterne und weiß fast so viel über die alten Göttersagen wie Sisel ...«
»Augenblick«, sagte Utta. »Vielleicht ist er ja gemeint. Chaven ist so eine Art Priester — ein Priester der Logik und der Wissenschaft. Und er erforscht insbesondere das Licht und die Sterne, mit seinen Linsen. Vielleicht hatte Chaven ja irgendeinen mächtigen Gegenstand, der jetzt verschwunden ist.«
»Aber Chaven ist doch selbst verschwunden!«, sagte Merolanna. »Er hat sich in Luft aufgelöst! Und das heißt, mein Sohn ist für immer verloren ...!«
»Niemand verschwindet einfach«, sagte Utta. »Es sei denn, die Götter nähmen ihn zu sich. Und der Dachlingsgott zumindest scheint nicht zu wissen, was mit Chaven passiert ist, also lebt der Arzt ja vielleicht noch.« Sie erhob sich. »Ich werde schauen, was ich herausfinden kann, Euer Gnaden.«
»Seid vorsichtig!«, rief Merolanna, als Utta zur Tür ging. Sie streckte wieder die Arme aus, als wollte sie die Zorienschwester zurückhalten. »Ihr seid alles, was ich noch habe!«
»Wir haben die Götter, Herzogin. Ich werde zu meiner barmherzigen Herrin Zoria um Hilfe beten. Ihr solltet es auch tun.«
Merolanna sank wieder zurück. »Götter, Sagenwesen ... Die Welt ist völlig aus den Fugen.«
Utta rief die kleine Dienerin Eilis herein. »Kümmere dich um deine Herrin«, befahl sie dem Mädchen. »Pass gut auf sie auf. Sie hat einen
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