Das Spiel
das passt genau.« Sie sah sich um, indem sie den Kopf hin- und herdrehte wie ein uralter Vogel. »Wir haben irgendwo die falsche Richtung eingeschlagen. Ach, Fluch über diese schwachsichtigen Augen!«
»Die falsche Richtung?« Briony sah sich ebenfalls um: überall nur Bäume, das geschlossene, tropfende Blätterdach und das Labyrinth aus feuchter Erde und Laub zwischen den Stämmen. »Woran merkt Ihr das?«
»Weil es jetzt schon später am Tag sein müsste.« Lisiya seufzte. »Wir hätten Zeit verlieren und dann ein bisschen davon wiedergewinnen müssen, aber wir haben alles zurückgewonnen. Es ist kaum eine Stunde dahingeschlichen, seit wir aufgebrochen sind.«
Briony schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
»Wie solltest du auch, ein Sterblichenkind, das noch nie die Wege der Götter gegangen ist. Glaub mir — wir haben die falsche Richtung erwischt. Ich muss erst mal haltmachen und nachdenken.« Gesagt, getan. Lisiya ließ sich auf einem gerundeten Stein nieder und legte sich die Finger an die Schläfen. Briony, die nicht das Glück hatte, ebenfalls einen Stein zu finden, konnte sich nur neben sie hocken.
»Wir müssen warten, bis sich die Wolken verziehen«, verkündete Lisiya schließlich, als Brionys Beine gerade richtig zu schmerzen begannen.
»Sollen wir Feuer machen?«
»Warum nicht. Möglich, dass wir erst morgen weiterwandern können. Sieh zu, dass du trockenes Holz findest — das macht es leichter.«
Als Briony mit einem halben Dutzend leidlich trockener, toter Aststücke zurückkam, schichtete Lisiya diese zu einem Häufchen, behielt das letzte Stück in der knochigen Hand und sagte etwas, das Briony nicht verstand, eine Aneinanderreihung rauer Konsonanten und melodischer Vokale. Rauch quoll zwischen Lisiyas Fingern hervor. Als sie den Zweig zu den anderen legte, war da, wo sie ihn gehalten hatte, eine schwarze, schwelende Stelle im Holz. »Guter Trick«, sagte Briony anerkennend.
Lisiya schnaubte. »Das ist kein Trick, Kind, das sind die jämmerlichen Überreste einer Kraft, die einst die Hälfte dieses Waldes hätte fällen und den Rest in ein rauchendes Gerippe verwandeln können. Macht über Ast und Wurzel, über Mark, Fasern und Knorren — das alle besaß ich einmal. Ich konnte einen Baum im Handumdrehen erblühen und einen Fluss seinen Lauf ändern lassen. Jetzt vermag ich kaum noch ein Feuer zu entzünden, ohne mir die Hand zu verbrennen.« Sie zeigte ihre rußschwarze Handfläche. »Siehst du? Blasen. Ich werde wohl etwas Lavendelöl draufschmieren müssen.«
Während die Göttin in ihrem Sack kramte, beobachtete Briony, wie das Holz Feuer fing. Im immer noch hellen Nachmittagslicht waren die Flammen kaum zu sehen. Wie seltsam es war, an diesem Zwischenort zu sein, dieser zeitlosen Verbindungsstelle zwischen ihrem bisherigen Leben und dem, was jetzt kommen würde, und noch dazu als Gast einer Göttin. Was stand ihr noch bevor? Was würde aus ihr werden?
»Barrick!«,
sagte sie unvermittelt.
»Was?« Lisiya sah sie irritiert an.
»Barrick — mein Bruder.«
»Ich weiß, wer dein Bruder ist, Kind. Ich bin zwar alt, aber nicht blöde. Warum hast du seinen Namen gerufen?«
»Mir ist gerade wieder eingefallen, dass ... als ich ... bevor ich Euch gefunden habe ...«
»Du hast
mich
gefunden?«
»Bevor Ihr mich gefunden habt, meinetwegen. Barmherzige ...! Für eine Göttin seid Ihr ganz schön dünnhäutig.«
»Schau sie dir doch an, meine Haut, Kind. Dünn? Sie hält ja kaum noch meine Knochen zusammen — obwohl ich jetzt mehr von dem runzligen alten Zeug zu haben scheine als früher. Also, rede.«
»Ich habe in einen Spiegel geschaut und habe ihn gesehen. Er war in Ketten. War das eine wahre Vision?«
Lisiya zog eine struppige Augenbraue hoch. »Ein Spiegel? Was für ein Spiegel? Ein Wahrsagespiegel?«
»Ein Spiegel eben. Ich weiß nicht — einfach nur ein Handspiegel. Er gehörte einer der Frauen in Landers Port, bei denen ich gewohnt habe.«
»Hmmm.« Die Göttin ließ ihr Heilöl wieder in ihren großen, zerknitterten Sack fallen. »Entweder hat da jemand ein mächtiges Werkzeug als Alltagsutensil benutzt, oder aber bei dir und deinem Bruder sind seltsamere Dinge im Gange, als selbst ich mir erklären kann.«
»Mächtiges Werkzeug ... meint Ihr einen Zauberspiegel, so wie in einem Gedicht? So etwas war es nicht.« Briony formte mit Daumen und Zeigefinger ein kleines Rund. »Er war nicht größer als so.«
»Und du kennst dich natürlich mit solchen Dingen
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