Das Spiel
deinem Kinn klebt der Rahm, der mir als Opfer dargebracht wurde, und der Himmel weiß, dass das heutzutage wahrhaftig nicht oft vorkommt. Und eine trockene Nacht hattest du auch, und du hustest dir nicht mehr die Leber und die Seele aus dem Leib. Manche Leute würden das schon als beträchtliche Gaben ansehen.«
»Aber ich will nicht von Wölfen gefressen werden — meine Familie
braucht
mich.«
Lisiya seufzte gequält. »Ich sagte ja nur, dass der Letzte, den ich auf seinen Weg geführt habe, von Wölfen gefressen wurde — das war als kleiner Witz gemeint (wenn es auch der Bursche, der gefressen wurde, wohl nicht so gesehen hat).
Ich weiß nicht,
was aus dir wird. Vielleicht schickt dir die Musik ja einen hübschen Prinzen, der dich auf sein weißes Pferd hebt und mit dir in den Sonnenuntergang reitet.« Sie verzog das Gesicht und spuckte aus. »Wie in einem von den Gedichten, die dieser Gregor verbrochen hat.«
Briony funkelte sie finster an. »Ich will keinen Prinzen. Ich will meinen Bruder zurückhaben. Ich will meinen Vater zurückhaben und mein Zuhause. Ich will, dass alles wieder so wird, wie es war!«
»Wie schön, dass du so bescheiden bist.« Lisiya schüttelte den Kopf. »Jedenfalls hör auf, dir den Kopf über Wölfe zu zerbrechen — die sind nicht wichtig. Da drüben, hinter dem Buckel, ist ein Bach. Geh und wasch dich, und dann trink Wasser oder lass welches, oder was auch immer ihr Sterblichen morgens tut. Ich packe solange zusammen, und wenn du dann noch mehr Erklärungen willst, gebe ich sie dir im Gehen. Und trödle nicht.«
Briony tat, wie ihr geheißen, und ging auf dem Weg zum Bach so dicht an den beiden Rehen vorbei, dass eines den Kopf wandte und sie mit der Nase stupste. Das war nur eine unerwartete Kleinigkeit, aber erstaunlich beruhigend, und als sie sich das Gesicht gewaschen und sich ein paar Mal mit den Fingern durchs Haar gekämmt hatte, fühlte sie sich schon fast wieder wie ein Mensch.
Jetzt, da ihre schlimmsten Ängste besänftigt waren, da sie etwas im Magen hatte und sich in Gesellschaft einer realen Person befand — wenn man denn eine Göttin als reale Person bezeichnen konnte —, stellte Briony fest, dass der Blankenwald eigentlich sehr beeindruckend war. Viele Bäume waren so alt und mächtig, dass zwischen ihren Wurzeln jüngere Bäume wuchsen, die selbst bereits Riesen waren. Die Stille, tiefer und gewichtiger als jede Stille in einem von Menschen errichteten Gebäude, gleich welcher Größe, und das sanfte Licht, das durch das Blattwerk und Astgewirr sickerte, gaben ihr das Gefühl, durch Erivors Unterwasserreich zu schwimmen, so wie es auf den wunderschönen blaugrünen Fresken der Kapelle der Südmarksburg dargestellt war. Wenn sie die Augen etwas zusammenkniff, sahen die herabhängenden Ranken schon fast wie driftender Seetang aus, und die Vögel, die durch die Baumkronen flatterten, hätten blinkende Fische sein können.
»Ach, das ist auch so einer«, sagte Lisiya, als Briony schüchtern die Wandbilder der Kapelle erwähnte. »Hält deine Familie ihn nicht für ihren Ahnherrn, den alten Fischspeer?«
»Erivor? Warum, ist das auch eine Lüge?«
»Sei nicht so empfindlich, Kind. Wer weiß schon, ob es stimmt oder nicht? Perin und seine Brüder sind im Lauf der Jahre ganz schön herumgekommen, und nicht wenige Sterblichenfrauen wollten nur zu gern herausfinden, wie es ist, mit einem Gott das Lager zu teilen. Und das sind nur die, die freiwillig mitmachten!«
»Das ist alles so ... schwer zu glauben.« Lisiyas Gesichtsausdruck ließ Briony erschrocken zusammenzucken. »Nein, es ist nicht schwer zu glauben, dass Ihr eine Göttin seid, aber schwer zu ... begreifen. Dass Ihr die Götter kennt, so wie ich meine Familie kenne.«
»Das ist nicht ganz dasselbe«, sagte Lisiya, aber ihr Gesicht wurde jetzt etwas weicher. »Wir waren hunderte, und wir waren kaum je zusammen. Die meisten von uns blieben lieber für sich, vor allem meine nächsten Verwandten. Unser Zuhause waren die Wälder, nicht der hohe Xandos. Aber gekannt habe ich sie schon, und wenn wir uns auch nicht oft trafen, gab es doch bestimmte Anlässe, zu denen wir uns versammelten. Und manche Götter waren fast immer unterwegs — Zosim und auch Kupilas in späteren Jahren und Devona die Glanzbeinige, deshalb erfuhren wir früher oder später, was die anderen trieben. Wobei man Zosim allerdings kein Wort glauben konnte, dem kleinen Mistkerl.«
»Aber ... er ist doch der Gott der Dichter!«
»Ja, und
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