Das Spiel
musterten sie kurz mit ihren sanftbraunen Augen, senkten dann die Köpfe und ästen von dem Gras, das da und dort durch das Laub und das am Boden liegende Totholz lugte.
»Ihr seid wirklich«, sagte Briony. »Ich meine, ich habe Euch nicht geträumt. War ... war dann
alles
wirklich?«
»Woher soll ich das wissen?« Lisiya setzte den Sack ab, den sie bei sich hatte, hob dann die Arme und streckte sich. »Ich halte mich in der Regel aus den Köpfen von Sterblichen draußen — und außerdem war ich die ganze Nacht unterwegs. Was war denn, was ein Traum gewesen sein könnte?«
»Dass Ihr mir zu essen und einen Platz zum Schlafen gegeben habt.« Briony lächelte schüchtern. »Dass Ihr mir geholfen habt. Und dass Ihr eine Göttin seid.«
»Doch, das deckt sich alles mit meiner Erinnerung.« Lisiya nahm die Arme wieder herunter und stöhnte: »Ach, diese alten Knochen! Wenn ich mir vorstelle, dass ich einst in einer einzigen Nacht von einem Ende des Blankenwalds zum anderen und wieder zurück laufen konnte und dann immer noch die Kraft hatte, den einen oder anderen Jägersmann in mein Bett mitzunehmen.« Sie sah Briony unwirsch an. »Worauf wartest du, Kind? Hast du keinen Hunger? Wir haben heute einen weiten Weg vor uns.«
»Was? Wo gehen wir denn hin?«
»Iss, und ich werde es dir erklären. Pass auf deine Finger auf, wenn du die Äpfel aus dem Feuer nimmst. Ah, fast hätte ich es vergessen.« Sie langte in ihren Sack und zog einen kleinen, mit Wachs verstöpselten Krug heraus. »Rahm. Den stellt ein bestimmter Bauer für mich hinaus, wenn seine Kuh reichlich Milch gibt. Du siehst, nicht alle haben mich vergessen.« Sie wirkte so geschmeichelt wie eine alte Jungfer mit einem Verehrer.
Das Essen war klebrig, aber wunderbar. Briony leckte sich noch den letzten Tropfen Rahm und das letzte Stückchen weiches, süßes Apfelfleisch von den Fingern.
»Wenn wir hier bleiben würden, würde ich Brot backen«, sagte Lisiya.
»Aber wo gehen wir denn hin?«
»Du gehst dahin, wo du hin musst. Was dort mit dir wird, weiß ich nicht. Die Musik sagt, dass du von deinem Weg abgekommen bist.«
»Das habt Ihr gestern schon gesagt, und ich verstehe es nicht. Welche Musik?«
»Kind! Du forderst Antworten, wie ein Spatzenküken den Schnabel nach Würmern aufsperrt! Die Musik ist ...
die Musik.
Das, was Feuer im Herzen der Leere macht. Das, was dem Weltall Ordnung gibt — oder jedenfalls so viel Ordnung wie nötig, und wenn Chaos erforderlich ist, auch das. Sie ist das Einzige, dem selbst die Götter gehorchen müssen. Sie spricht zu uns — singt zu uns — und pulst in uns anstelle von Herzblut. Nun ja, außer wir tragen Fleisch, dann müssen wir sehr genau hinhorchen, um die Musik über dem schwerfälligen Rhythmus dieser albernen Organe noch hören zu können. Wie unbequem, so ein Körper!« Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Aber die Musik sagt mir, dass du vom Weg abgeirrt bist, Briony Eddon. Meine Aufgabe ist es, dich wieder auf den Weg zurückzubringen.«
»Heißt das ... alles wird wieder gut? Die Götter werden uns helfen, unsere Feinde zu vertreiben, und wir bekommen Südmark zurück?«
Lisiya sah sie finster-belustigt an. »Du erwartest wirklich nicht viel, was? Nein, das heißt es ganz und gar nicht. Das letzte Mal, als ich jemandem geholfen habe, seinen Weg wiederzufinden, hat ihn zwei Tage später ein Rudel Wölfe gefressen.
Das
war sein vorherbestimmter Weg, verstehst du?« Sie hielt einen Moment inne, um sich am Arm zu kratzen. »Wenn ich nicht eingeschritten wäre, wer weiß, wie lange er dann noch umhergeirrt wäre — und die Wölfe vermutlich auch.«
Briony starrte sie mit offenem Mund an. »Dann muss ich also sterben?«
»Irgendwann schon, Kind, ja. Das ist das Los der Sterblichen — deshalb heißen sie ja so. Und glaub mir, es ist wahrscheinlich sehr viel angenehmer als tausend Jahre stetigen Verfalls.«
»Aber ... aber warum tun mir die Götter das an? Ich habe alles verloren — alle, die ich liebe!«
Lisiya sah sie fast schon wütend an. »
Du
hast alles verloren? Kind, wenn du miterlebt hast, wie nicht nur alle, die du liebst, sondern alle, die du
kennst,
verschwinden, wenn du alles hingegeben hast, was ich hingegeben habe — Schönheit, Macht, Jugend —, und zwar schon vor Jahrhunderten,
dann
kannst du dich beklagen.«
»Ich dachte ... ich dachte, Ihr würdet ...«
»Dir helfen? Bei meinem Hain, ich helfe dir doch. Du bist doch nicht mehr am Verhungern, oder? Ja, mir scheint, da an
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