Das Spiel
Bei dir spüre ich nichts Außergewöhnliches, nichts Magisches — außer deiner Jungfräulichkeit, der ja aus irgendwelchen merkwürdigen Gründen eine Bedeutung beigemessen wird.« Sie lachte rau und trocken. »Bei den heiligen Steinen, schau dir doch Zoria an. Jahrtausende sind vergangen, und sie bezeichnen sie
immer noch
als Jungfrau.«
»Wie meint Ihr das?«
»Ein seltenes Gut bei den Surazemai wie bei den Onyenai, die Jungfräulichkeit, das kann ich dir versichern. Ja, außer vielleicht dem Handfertigen selbst — und das entbehrt nicht einer gewissen Ironie — ist nur unsere Devona noch unbefleckt, und bei ihr könnte es meiner Meinung nach ebenso gut Neigung sein wie irgendetwas anderes. Genau wie die Sterblichen sind auch die Götter ganz verschiedene Naturen mit ganz verschiedenen Wünschen und Begierden. Aber Zoria ... ganz gewiss nicht, das arme Ding.«
»Wollt Ihr sagen, Zoria ist nicht ... war nicht ... ist keine ...«
Lisiya verdrehte die Augen. »Ich hab's dir doch gesagt, Mädchen, Khors hat sie geliebt und sie ihn ebenfalls. Was glaubst du denn, warum sie aus dem Wiesenland und den xandischen Hügeln weggelaufen ist? Um mit ihm zusammen zu sein. Und wäre nicht ihr Vater mit einem Heer von Verwandten angerückt, um
seine
Ehre zu verteidigen — diese törichten Männer und ihre Ehre! —, dann hätte sie den Mondherrscher liebend gern geheiratet und ihm noch viele Kinder geboren. Aber so war es nun mal nicht bestimmt, und die Welt hat sich geändert.« Für einen Moment schien sie weicher zu werden; eine Traurigkeit, die fast schon wie Schmerz aussah, breitete sich über das ausgemergelte Gesicht der Göttin. »Die Welt hat sich geändert.«
Ihr Gesicht war zu ungeschützt — nackt und bloß. Briony sah ins Feuer.
»Um deine unvollendete Frage von eben zu beantworten ...«, sagte Lisiya plötzlich und räusperte sich dann. »Nein, Zoria war keine Jungfrau. Und jetzt ist sie gar nicht mehr — und auch sonst niemand, außer uns wenigen Stiefkindern und Monstern, uns Verstoßenen des Himmels. Wie Insekten nach einem Waldbrand aus dem versengten Boden krabbeln, haben nur wir diesen letzten Götterkrieg überlebt.«
»Ihr meint ... die anderen Götter sind tot?«
»Tot nicht, Kind, sie schlafen. Aber der Schlaf der Götter währt schon ewige Zeiten und wird fortdauern bis an der Welt Ende.«
»Sie schlafen? Dann sind die Götter ... verschwunden?«
»Nicht ganz, aber das ist eine andere Geschichte. Und ich bezweifle nicht, dass noch ein paar alternde Halbgötter und Halbgöttinnen wie ich sich um ihre Wälder kümmern. Oder um ihre Seen, die einst kleine Meere waren. Aber ich habe in der Welt der Wachen schon so lange nicht mehr mit meinesgleichen geredet, dass ich mich kaum noch an das letzte Mal erinnern kann.«
»Keine Götter? Sie haben uns verlassen?«
Lisiyas Lächeln war grimmig. »Nicht aus eigener Entscheidung, Sterblichenkind. Aber sie schlafen schon, seit eure Vorfahren erstmals Stein auf Stein gesetzt haben, um die ersten Städte zu bauen. Also ändert das jetzt auch nichts.«
»Aber wir beten zu ihnen! Ich habe immer gebetet, vor allem zu Zoria ...!«
»Und du kannst getrost weiter zu ihr beten, wenn du möchtest, und zu den anderen auch. Sie werden dir vielleicht sogar antworten — im Schlaf träumen sie, und ihre Träume sind nicht wie die euren. Schon deshalb, weil es ein unruhiger Schlaf ist ... aber
das
ist ganz gewiss eine Geschichte für ein andermal. Wir haben schon lange genug getrödelt. Komm jetzt, steh auf.«
»Was? Gehen wir weiter?«
»Ja. Folge mir.« Und ohne sich umzuschauen, ob Briony gehorchte, humpelte Lisiya wieder durch den Wald.
Die Spätnachmittagssonne versank schon in den fernen Hügeln, als sie den Rand des Blankenwalds erreichten. Den mächtigen Verhau aus Bäumen im Rücken, blickte Briony auf das Wiesenland, das wohl Silverhalden sein musste. Die grasbewachsene Ebene erstreckte sich nach Norden und Westen, so weit das Auge reichte — schön, friedlich und menschenleer. »Warum sind wir hierher gekommen?«, fragte sie.
»Weil die Musik dich hierher ruft.« Lisiya suchte in den Falten ihrer formlosen Gewänder herum und zog etwas hervor, das an einem Lederbändel hing. Verblüffend gelenkig streifte sie den Bändel über ihren Kopf. »Ah, ein bisschen Sonne auf meinen Knochen tut gut. Hier, Tochter. Ich bedaure, dass wir nicht mehr Zeit miteinander hatten. Es fehlt mir, mit jemandem reden zu können, der nicht ganz so langsam und
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