Das Spiel
geraderücken, was du nicht weißt, und um ehrlich zu sein, ich erinnere mich auch nicht mehr an diesen ganzen Unsinn, den Perin und seine Brüder zu der Lehre erklärt haben, die die Priester zu verbreiten hätten. Hör zu, das ist alles, was du über die ältesten Zeiten wissen musst: Zo, der Sonnenball, nahm Sva, die Leere, zu seiner Frau. Sie bekamen vier Kinder, und der Älteste, Rud, der Taghimmel, fiel im Kampf gegen die Dämonen des Alten Dunkels. Das weiß jeder — sogar die Sterblichen. Sveros, den wir Zwielicht nennen, nahm seine Nichte Madi Onyena, Ruds Witwe, zur Frau, und sie gebar ihm Zmeos Weißfeuer und Khors Mondherrscher. Dann wurde ihr Sveros Zwielicht von Surazem abspenstig gemacht, ihrer Zwillingsschwester, die aus demselben goldenen Ei gekommen war. Surazem gebar ihm Perin, Erivor und Kernios, die drei Brüder, und diese fünf Söhne Zwielichts — und ein paar Schwestern und Halbschwestern natürlich, aber wer redet schon von denen? — brachten die großen Götter und ihre ewigen Rivalitäten hervor. Aber das dürftest du ja wohl alles wissen?«
Briony bemühte sich, gerade zu sitzen und auszusehen, als wäre sie nicht am Einschlafen. »Mehr oder weniger ...«
»Und du müsstest auch wissen, dass Perin und seine Brüder sich gegen ihren Vater Sveros wandten und ihn aus der Welt warfen, ins Dazwischen. Aber es war nicht so, wie eure Priester lehren: dass danach die drei Brüder die Herrscher der Götter wurden. Weißfeuer, der, den ihr Zmeos nennt, war der Älteste unter Sveros' Kindern und fand, dass der Platz ihm gebührte.«
»Zmeos der Gehörnte?« Briony schauderte, und es kam nicht nur von ihren immer noch feuchten Kleidern. Ihre ganze Kindheit hindurch hatte man ihr von dem alten Schuppenwurm erzählt, der darauf lauerte, Kinder, die ungezogen waren oder logen, zu stehlen und in seine feurige Höhle zu schleppen.
»So nennen ihn Perins Priester, ja.« Lisiya schürzte verächtlich die Lippen. »Ich hatte nie Priester. Um ehrlich zu sein, ich kann Priester nicht leiden. In den Zeiten, als die Menschen mir noch Opfer brachten, war ich ganz zufrieden mit einer Honigwabe oder einem Armvoll Blumen. All dieses blutigrote Fleisch ...! Tierfleisch, um die Priester zu ernähren, aber keine Göttin. Und in ihre Steintempel hätten mich auch keine zehn Pferde gebracht. Nun ja, bis auf ein Mal, aber das ist keine Geschichte für heute Abend ...« Die Augen der Alten verengten sich. »Du schläfst ja ein, Kind«, sagte sie streng. »Ich erzähle dir die wahre Geschichte der Götter, und du schaffst es nicht mal, die Augen offen zu halten.«
»Tut mir leid«, sagte Briony. »Es ist nur ... so lange her ...«
»Dann schlaf«, sagte Lisiya. »Ich habe einen ganzen Tag auf dich gewartet — Jahre sogar seit meinem letzten Bittsteller. Da kann ich auch noch ein paar Stunden warten.«
»Danke.« Briony streckte sich aus, den Arm unterm Kopf. »Danke ... Herrin.«
Sie hörte nicht mehr, ob die Göttin noch etwas sagte, denn binnen Augenblicken hatte der Schlaf sie gepackt und hinabgezogen, so wie das Meer einen Schiffbrüchigen, der nicht mehr die Kraft zum Schwimmen hat.
Nach dem Aufwachen lag sie reglos da, blasses Sonnenlicht auf den Augenlidern, und versuchte sich zu erinnern, wer sie war und was geschehen war. Es ging ihr erstaunlich gut — war das Fieber gesunken? Und ihr Magen fühlte sich ganz zufrieden an, fast als wären die Träume ... wirklich gewesen.
Briony setzte sich auf. Wenn die Geschehnisse der Nacht Träume gewesen waren, dann dauerten diese Träume immer noch fort: Nur wenige Schritte von ihrem Schlafplatz brannte das Feuer in seiner Steingrube, und etwas duftete so köstlich, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Außer ihr selbst war niemand da. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Die alte Frau, die behauptete, sie sei eine Göttin, mochte sie sich ja vielleicht eingebildet haben — aber das Feuer und das sorgsam aufgeschichtete Astholz daneben, dieser Duft nach ... Bratäpfeln? Im Spätwinter?
»Ho, Kind, bist du endlich doch hochgekommen.« Die Stimme hinter ihr ließ Briony zusammenfahren. »Du hast gestern deinen Nachtisch nicht mehr gegessen, also habe ich noch ein paar Äpfel in die Glut getan.«
Sie drehte sich um und sah Lisiyas kleine, schwarz gewandete Gestalt langsam in die Senke herabhinken. Zwei Rehe folgten ihr wie Hunde. Die beiden Tiere, ein Bock und eine Ricke, blieben stehen, als sie Briony sahen, liefen aber nicht weg. Sie
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