Das Spiel
gesetzt ist wie die Bäume, und für ein Sterblichenkind bist du gar nicht so schwer von Begriff.« Sie streckte die klauenartige Hand aus. »Da, nimm.«
Briony nahm ihr das Ding aus der Hand. Es war ein primitives kleines Amulett, bestehend aus einem Vogelschädel und einem Zweiglein mit getrockneten weißen Blüten, umwickelt mit weißem Faden. »Ich bin zu alt, um zu kommen, wenn ich gerufen werde«, sagte Lisiya, »und zu schwach, um dir viel Hilfe zu schicken, aber vielleicht kann dir das hier in einer schwierigen Situation von Nutzen sein. Ich habe immer noch ein, zwei Verehrer.«
Während sie sich den Lederbändel überstreifte, fragte Briony: »Sind wir jetzt an dem Ort, von dem Ihr gesprochen habt? Ihr wollt doch nicht gehen, oder?«
Lisiya lächelte. »Du bist ein gutes Kind — ich bin froh, dass ich dir helfen konnte. Und ich hoffe, dieser Weg führt dich irgendwohin, wo dich wenigstens ein bisschen Glück erwartet.«
»Weg? Welcher Weg?« Briony blickte sich um, sah aber nichts als feuchtes Gras, das sich im Abendwind wiegte. Sie war mitten im Nichts — keine Straße, kein Pfad und schon gar keine menschliche Ansiedlung. »Wo soll ich denn hin ...?«
Doch als sie sich umdrehte, war die Alte weg. Briony lief in den Wald zurück und rief und rief, spähte nach der schwarz gewandeten Gestalt aus, aber die Herrin der Silbernen Lichtung war spurlos verschwunden.
24
Drei Brüder
Hört, meine Kinder! Argal und seine Bruder hatten jetzt den nötigen Vorwand und zügelten ihre Bosheit nicht länger. Sie gingen unter den Göttern umher und behaupteten, Nushash habe Suya gegen ihren Willen geraubt, und viele Götter wurden zornig und erklärten, sie würden Nushash, ihren rechtmäßigen Herrscher, stürzen.
Offenbarungen des Nushash,
Erstes Buch
»Das scheint mir keine gute Idee«, flüsterte Utta. »Was will er von uns? Er ist gefährlich!« Merolanna schüttelte den Kopf. »Ihr müsst mir vertrauen. Ich mag ja sonst nicht viel wissen, aber mit solchen Dingen kenne ich mich aus.«
»Aber ...!«
Sie verstummte, als Tirnan Fretup, der neue Burgvogt, hereinkam. Er hielt ein Buch in den Händen, und ihm folgte ein Page mit einem Stapel weiterer Bücher, auf dem — ziemlich wackelig — ein Schreibtablett balancierte. Fretup trug das Haar jetzt auch nach der syanesischen Mode, die die gesamte Burg erobert hatte, weit kürzer als bis auf Ohrhöhe gestutzt, und da er ohnehin bereits eine Glatze bekam, sah er am ehesten wie ein Priester aus — ein Eindruck, dachte Utta, den Fretup kultivierte. Schon als Avin Brones Sekretär hatte er sich gern als Philosophen gesehen, als einen klugen Mann unter minderen Köpfen. Sie hatte ihn nie leiden können und kannte auch niemanden außer den Tollys, der etwas von ihm hielt.
Fretup blieb stehen, als hätte er die Anwesenheit der beiden Frauen jetzt erst bemerkt. »Oh, Herzogin«, sagte er und musterte sie über die Brille hinweg, die auf seiner schmalen Nase thronte. »Ihr beehrt mich. Und Schwester Utta, wie nett, Euch zu sehen. Ich fürchte, meine neuen Pflichten als Vogt haben mich in letzter Zeit schrecklich auf Trab gehalten — mir gar keine Zeit mehr gelassen, alte Freunde zu besuchen. Vielleicht können wir das ja jetzt nachholen. Wie wär's mit etwas Wein? Tee?«
Utta fühlte, wie Merolanna bei der Implikation, sie und dieser Emporkömmling wären alte Freunde, sämtliche Stacheln ausfuhr. Sie legte der Älteren die Hand auf den Ärm. »Für mich nicht, danke, Vogt Fretup.«
»Ich möchte auch nichts, danke, Vogt«, sagte die Herzogin höflicher, als Utta es ihr zugetraut hätte. »Und obwohl wir uns natürlich gern ausführlich mit Euch unterhalten würden, ist uns doch bewusst, welch viel beschäftigter Mann Ihr seid. Wir werden Eure Zeit gewiss nicht lange in Anspruch nehmen.«
»Aber es wäre mir eine echte Freude, Besuch zu haben.« Fretup schnippte mit den Fingern und winkte. »Wein.« Der Page setzte den Bücherstapel und das Schreibtablett auf dem hohen, schmalen Schreibpult ab, das so lange Steffans Nynor gehört hatte, dass es ebenso Teil von ihm schien wie seine Haut und seine knotigen Hände. Seiner Last ledig, ging der Page hinaus. »Eine echte Freude«, wiederholte Fretup, als gefiele ihm der Klang. »Ich werde mir jedenfalls einen Becher gönnen, da ich den ganzen Vormittag so schwer gearbeitet habe, um alles für Herzog Caradons Besuch vorzubreiten. Davon habt Ihr ja sicher schon gehört — aufregend, was?«
Utta war das neu.
Hendons
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