Das Spiel
treffen konnte.
In diesen höchst anormalen Zeiten kam Briony das Umherziehen mit den Schauspielern fast schon normal vor. Es war jetzt etwa einen halben Monat her, dass sie sie getroffen hatte, vielleicht auch schon länger — ohne die mechanisierten Abläufe des Hoflebens war es schwer, den Überblick zu behalten, welcher Tag gerade war. Eimene, der erste Monat des Jahres, war in Dimene übergegangen, obwohl sich da kaum ein Unterschied ausmachen ließ: In diesem düsteren, matschigen Winter hatte es wenig geschneit, was immerhin ein Glück war, aber es regnete nach wie vor, und der Wind blies unvermindert kalt und rau. Trotz der Geschehnisse seit dem Jahreswechsel hatte sich Briony immer noch nicht an das Leben im Freien gewöhnt und glaubte auch nicht, dass das je passieren würde.
Sie waren grob in südlicher Richtung gezogen, auf der Großen Kertischen Straße, immer hin und her über die Grenze zwischen Silverhalden und Kertewall, und hatten in jeder Ortschaft Station gemacht, die groß genug war, um eine geeignete Auftrittsstätte zu besitzen und Bewohner, die immerhin so viel Geld in den Taschen hatten, dass sich die Mühe lohnte. Dennoch bezahlten bei jeder Aufführung einige Leute mit Gemüse und anderen Lebensmitteln, und in vielen kleineren Dörfern waren am Ende des Abends gar keine Münzen in der Schatulle, dafür aber lagen auf Estirs hölzernem Reisekoffer (der der Truppe als Einlasstisch diente) ein paar kleine Brotlaibe und genügend Trockenerbsen und Rüben, dass die Schauspieler nach der Vorstellung zu einer warmen Suppe mit Brot kamen. Obwohl das religiöse Lehrstück
Der Waisenknabe im Himmel
beliebt war und Szenen der Theomachie (des Krieges Perins und seiner Brüder gegen die bösen, alten Götter) immer gut ankamen, mochten die Dörfler doch die blutrünstigen Historiendramen am liebsten, vor allem den
Räuberherrscher von Torvio
und Kennits berüchtigten
Xarpedon,
in dem Pedder Makswell den Titelhelden auf so schrecklich ergreifende Art sein Leben aushauchen ließ. Briony, die in letzter Zeit zu viel des echten Lebenssaftes hatte fließen sehen, konnte es immer noch nicht so gut ertragen, wenn Makswell oder Nevin Kennit auf der Bühne umherwankten und Schweineblut aus einer versteckten Schweinsblase verströmten, aber die Zuschauer bekamen gar nicht genug davon. Wenngleich sie auf den Tod eines Helden oder eines Unschuldigen — besonders, wenn er gut inszeniert war — mit Zorn und Empörung reagierten, johlten sie vor Schadenfreude, wenn der boshafte, gehörnte Gott Zmeos von Kernios' Speer durchbohrt wurde, und lachten schallend, wenn Milios, der Räuberherrscher, nachdem ihn ein Bär grässlich zugerichtet hatte, keuchend seine letzten wankenden Schritte tat und dabei stöhnte: »Welch Untier! Welch niederträchtige Pranken!«
Auf den regengepeitschten Straßen Kertewalls und Südsilverhaldens war erstaunlich viel los: Hökerkarren holperten die tiefen Fahrspuren entlang, und Landlose zogen in ganzen Familien oder auch kleinen Trupps nach Süden, um sich im Frühjahr als Lohnknechte zu verdingen. Die Wunden und Verletzungen, die sich Briony bei dem Brand in dan-Mozans Haus zugezogen hatte, waren längst verheilt, die Folgen der schlimmen Hungertage im Wald überwunden, und sie fühlte sich so kräftig und gesund wie schon lange nicht mehr. Was auch daran lag, dass es ihr immer noch ein unvermindertes Vergnügen war, allmorgendlich in Jungenkleider zu schlüpfen, wenn sie sich diese auch etwas sauberer und weniger verlaust gewünscht hätte. Sie fand diese Kleider weder besonders schön, noch wollte sie lieber ein Junge sein, aber sie liebte die Freiheit, die es ihr schenkte, nichts Beengenderes tragen zu müssen als eine lose Tunika und grobwollene Beinkleider. Sie konnte aufstehen, sich hinsetzen oder bücken und sogar, wenn es ihr — selten genug — einmal gestattet wurde, das schwergeprüfte Karrenpferd der Truppe reiten, ohne an Schicklichkeit und Anstand denken oder mit praktischen Hemmnissen kämpfen zu müssen. Warum hatte das zu Hause auf der Südmarksburg niemand verstanden?
Beim Gedanken an ihr altes Leben auf der Südmarksburg und die nahezu täglichen Kämpfe mit Rose und Moina um die Auswahl ihrer Kleidung überfiel sie Heimweh. Doch obwohl sie die beiden Mädchen — und natürlich auch Merolanna, Chaven und viele andere — schrecklich vermisste, war das nichts im Vergleich zu der schmerzlichen Sehnsucht nach Barrick.
Hatte sie ihn wirklich in Idites Spiegel
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