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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
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gesehen, oder hatte ihr gepeinigtes Herz ihr nur etwas vorgegaukelt? Was hatte die Halbgöttin Lisiya gemeint, als sie gesagt hatte: »Bei dir und deinem Bruder sind seltsamere Dinge im Gange, als selbst ich mir erklären kann«? Dass es nicht nur ein Traum oder eine Ausgeburt ihrer fiebrigen Phantasie gewesen war, sondern irgendwie tatsächlich wahr? Aber Briony wusste, sie war keine
Onirai —
ihre Orakel erwählten die Götter schon in frühesten Jahren. Jedenfalls war der Barrick, den sie gesehen hatte, ein Gefangener gewesen — in Handeisen geschlagen und elend. Auch wenn er in dieser Vision noch gelebt hatte, war es doch fast besser zu glauben, dass sie nicht wirklich
ihn
gesehen hatte, als ihn sich so elend denken zu müssen und so ... allein.
    Das war natürlich das Allerschlimmste: Sie waren beide allein, so allein, wie es nur Zwillinge sein konnten, die zuvor kaum je getrennt gewesen waren, und schon gar nicht unter so schrecklichen Bedingungen. Wenn es eine echte Vision gewesen war, hatte er
sie
dann auch gesehen? Litt er genauso unter ihrem Verlust wie sie unter seinem, oder war er immer noch so gefangen in Zorn und Düsternis, dass er kaum einen Gedanken auf seine Schwester verwandte?
    Und was,
dachte sie plötzlich,
ist aus Ferras Vansen geworden, der für die Sicherheit meines Bruders sorgen sollte?
Beim Gedanken, dass er die Gefangennahme ihres armen, verkrüppelten Bruders zugelassen hatte, musste sie eine Aufwallung von Zorn niederkämpfen: Wer wusste denn, ob der Gardehauptmann Barrick nicht vor Schlimmerem bewahrt hatte? Ob er nicht gar sein eigenes Leben hingegeben hatte, um den Prinzen zu schützen?
    Bei diesem letzten Gedanken überschwemmte sie eine erschreckend heftige Welle von Reue, ja sogar Angst: Vansen tot, und ihr Bruder allein? Sie hätte in diesem Moment nicht sagen können, was das Schlimmere wäre.
    Ich muss für sie beide beten,
sagte sie sich. Sie sah Vansen vor sich, groß, aber nicht einschüchternd, das Haar von der Farbe einer Walnussschale, das Gesicht entweder bemüht ausdruckslos oder aber so offen und verletzlich wie das eines verwirrten Kindes. Wer war er, dass sie auf diese Art an ihn dachte? Weit wichtigere Menschen waren ebenfalls verschollen — ihr Bruder, ihr Vater —, und Shaso und Kendrick waren tot. Warum sollte sie gerade an Vansen denken? Er war ein Gardehauptmann, ein Niemand — ein Versager, um genau zu sein, da er gleich bei seiner ersten verantwortlichen Mission mindestens die Hälfte seiner Männer verloren hatte. Welcher Anfall von weiblicher Schwäche, von irrationalem Mitleid oder gar — mochten die Drei sie vor ihrer Torheit bewahren — Verlangen hatte sie dazu getrieben, ihm eine zweite Chance zu geben und ihm sogar den Schutz des Wertvollsten, was sie hatte, anzuvertrauen?
    Sie verbannte alle Gedanken an Vansen aus ihrem Kopf und versuchte, sich auf ihren Bruder zu konzentrieren, eine Erklärung für diese mysteriöse Spiegelvision zu finden. Wie war das geschehen? Wenn Lisiya noch lebte, wachte dann vielleicht noch ein anderer Gott über sie? Hatte Erivor, der Schutzpatron des Hauses Eddon, ihr diese Vision aus irgendeinem Grund geschickt, den sie in ihrer Blindheit nicht verstand?
    Mächtiger Herr des Meeres, hilf deiner törichten Tochter! Zoria, borge mir nur für ein Weilchen deine Weisheit!
    Ihr wurde wieder ganz elend, als sie sich ihren Bruder hilflos irgendwo in der Fremde vorstellte. Er war doch immer wie ein Einsiedlerkrebs gewesen. Nur sein Seeschneckenhaus schützte ihn, da er zu weich war, um ohne diesen Panzer leben zu können, zu schüchtern, um es mit der Welt aufzunehmen. Selbst die Scheren seines Zorns waren für niemanden je eine echte Gefahr gewesen.
    Einmal — wie alt waren sie da gewesen, neun oder zehn? — hatte ihr Vater dem Meuteführer gestattet, ihnen einen Welpen zu schenken, einen wunderhübschen, schwarzen Hund. Barrick hatte ihn Immon nennen wollen, aber Briony hatte sich gesträubt. Sie war damals sehr gläubig gewesen und hatte nicht den harmlosesten Fluch benutzt, nicht einmal im Stillen. Barrick hatte immer gelacht und sie »die heilige Briony« genannt, aber sie war fest geblieben. Keinesfalls sollte der Welpe nach dem mächtigen Begräbnisgott heißen, dem Torhüter des Erdvaters selbst — das wäre Gotteslästerung. Vielmehr hatte sie das Hündchen Simargil genannt, nach dem treuen Hund des Volios (wenn sie auch selbst mit der Blasphemie gespielt hatte, indem sie es immer nur »Simmilein« rief), und bis

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