Das Spiel
aus unvermörtelten Steinen, mit schlecht gedeckten Schilfdächern, und immer noch so verstreut, dass hier wohl niemand das Haus seines Nachbarn sehen konnte, dachte Briony, nicht mal am helllichten Tag und bei wolkenlosem Himmel. Im Pferch hinter einem der Häuser meckerte eine Ziege, wahrscheinlich aus Protest gegen den kalten Tag, und Briony ging auf, dass das das erste heimelige Geräusch seit Stunden war.
Sie kamen noch an mehreren kleinen Weilern vorbei, betraten aber keinen davon und erreichten am späten Vormittag Kinemarkt, nachdem sie den Fluss an einer Schmalstelle überquert hatten, wo die Einheimischen mit einiger Mühe eine Ansammlung angespülter Steine in eine Brücke verwandelt hatten. Kinemarkt war ein ganz ansehnliches Städtchen, und über der nicht sonderlich hohen Mauer war die Rübenform einer Tempelkuppel erkennbar. Shaso entschied, dass er im Schutz der Bäume außerhalb der Stadtmauer warten würde, während Briony hineingehen und für eine Münze aus dem Säckel, das ihnen Turley mitgegeben hatte, Essen kaufen sollte. Die Münze, ein Silberstück mit dem Kopf König Enanders von Syan darauf, war so klein, dachte Briony, dass bestimmt fast die Hälfte des ursprünglichen Edelmetalls abgefeilt worden war. Sie dachte schuldbewusst daran, dass sie selbst einmal verfügt hatte, nicht nur Münzminderer seien auf dem Platz öffentlich mit Stockhieben zu bestrafen, sondern auch diejenigen, die ihnen halfen, die Münzen in Umlauf zu bringen. Jetzt, da die Münze von jemand anderem gemindert worden war, sie sie aber brauchte, um etwas zu essen zu kaufen, sah das Ganze doch ein wenig anders aus.
»Hier — schmiert Euch zuerst noch etwas Dreck ins Gesicht.« Shaso zog mit dem Finger einen Schmutzstrich über ihre Wange. Sie wich zurück. »Gut, dann macht es eben selbst. Die Grundlage habt Ihr ja schon, vom Marsch hierher.«
Sie tat, wie ihr geheißen, doch als sie dem matschigen Weg zum Stadttor folgte, in der Hoffnung, in der Menge der zum Markt strebenden Menschen untertauchen zu können, fragte sie sich plötzlich, ob sie und Shaso nicht zu wenig Sorgfalt auf ihre Tarnung verwandt hatten. Selbst in dem groben Kleid und mit etwas Dreck auf den Wangen würde sie doch kaum jemanden täuschen können! Ihr Gesicht, dachte sie in einer seltsamen Anwandlung von Stolz, musste doch wohl bekannter sein als das irgendeiner anderen Frau im Norden. Aber erkannt zu werden, konnte jetzt tödlich sein.
Und obwohl sie allen Blicken auszuweichen suchte, musterten sie die ersten Leute, denen sie auf dem Weg zum Tor begegnete, ein Mann und eine Frau, argwöhnisch von Kopf bis Fuß, doch der Grund wurde ihr rasch klar: Die meisten anderen Leute waren für den Markt sauber gewaschen und gekleidet. Briony war eine dreckige Fremde, kein Gesicht, das den beiden bekannt vorkam.
»Mögen die Drei Euch einen guten Tag gewähren«, sagte die Frau. Sie hielt ihr gaffendes Kind so fest, als könnte Briony es stehlen wollen. »Und ein gesegnetes neues Jahr.«
»Euch auch.« Der Gruß hatte Briony erschüttert — die Festlichkeiten waren nahezu unbemerkt an ihr vorübergegangen, denn es war ja in der Winterfestnacht gewesen, dass ihre Welt in Scherben ging. Für sie hatte es weder ein Neujahrsmahl noch Geschenke gegeben, und jetzt war es nur noch etwa ein Tagzehnt bis Kerneia. Wie bizarr — nicht nur ein Zuhause zu verlieren, sondern ein ganzes Leben!
Sie sah dem Mann und der Frau nicht hinterher, aber sie wusste, die beiden hatten sich nach ihr umgedreht und fragten sich ganz ohne Zweifel, was für ein seltsames Ding sie war.
Tuschelt nur über mich. Die Wahrheit ist viel seltsamer als alles, was ihr euch ausdenken könnt.
Weil sie Angst hatte, irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen, beschloss sie, doch nicht auf den Markt zu gehen. Sie passierte das Tor, tauchte nur kurz in dem Gedränge auf der breiten Hauptstraße unter und bog dann in eine enge Gasse ein. Sie ging bis zum ersten Haus, wo sie jemanden draußen stehen sah — eine Frau, die, in eine dicke Wolldecke gehüllt, Korn auf dem mit Pfützen übersäten Boden verstreute, während die Hühner sich um ihre Füße scharten, als wäre sie ihre Glucke.
Die Frau schien zuerst misstrauisch, doch als sie das Silberstück sah und Brionys erfundene Geschichte hörte, von einer Mutter und einem kleinen Bruder, die, beide krank, draußen an der Landstraße warteten, kaute sie nachdenklich auf der Unterlippe und nickte dann. Sie ging in ihr schmales, hohes Haus, das
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