Das Spiel
» ... und zu spät.« Wenige Atemzüge später schlief er, und Chert und Opalia sahen sich an, die Augen von Angst und Verwirrung geweitet.
4
Der Hadar-d'in-Mozan
Der bedeutendste Sprössling von Leere und Licht war Tagstern, und in seinem Schein war alles besser zu erkennen, und die Gesänge hatten neue Gestalt. Und in diesem neuen Licht fand Tagstern Vogelmutter, und zusammen brachten sie viele Dinge hervor, Kinder und Musik und Gedanken. Aber jeder Anfang enthält sein eigenes Ende.
Als der Allgesang um vieles älter war, verlor Tagstern seinen eigenen Gesang und ging fort in den Himmel, um nur noch von der Sonne zu singen. Obwohl ihr Schmerz gewaltig war, starb Vogelmutter nicht. Vielmehr gebar sie ein großes Ei, und aus diesem kamen die schönen Zwillinge Wind und Feuchte, um die Samen lebendigen Denkens zu verstreuen und der Erde Nahrung und Fruchtbarkeit zu bringen.
Einhundert Grundsteine,
Buch der Trauer
Ein Sturm fegte vom Meer heran, doch obwohl Regen auf sie einprasselte und das kleine Boot so wild schaukelte, dass Briony ganz schlecht wurde, war die Luft etwas wärmer als bei ihrer ersten Fahrt über die Brennsbucht. Dennoch war es eine elend kalte Reise.
Winter,
dachte Briony düster.
Nur eine Närrin bringt es fertig, in dieser tödlichen Jahreszeit ihren Thron zu verlieren und fliehen zu müssen. Die Tollys brauchen mich gar nicht umzubringen — ich werde wahrscheinlich ganz von allein ertrinken oder erfrieren.
Aber noch mehr fürchtete sie um Shaso, der jetzt, kaum dass das Fieber zurückgegangen war, vom kalten Regen durchweicht wurde. Doch wie gewöhnlich ließ sich der alte Mann weniger anmerken als eine Steinstatue. Das war immerhin beruhigend: Wenn sein starrhalsiger Stolz schon wieder die Oberhand hatte, musste es ihm eindeutig besser gehen.
Das Skimmermädchen Ena hingegen schien unter dem Wetter weder zu leiden, noch ihm zu trotzen — sie schien es kaum zu bemerken. Sie hatte die Kapuze zurückgeschlagen und ruderte so leicht und gelassen dahin, als lenkte sie ein Vergnügungsbötchen über das ruhige Wasser eines sommerlichen Sees. Briony wusste, was sie diesem Skimmermädchen schuldeten: Ohne Enas genaue Kenntnis der Bucht und ihrer Strömungen wären sie niemals so weit gekommen.
Ich werde sie großzügig belohnen.
Aber im Augenblick hatte die Tochter des Königs von Südmark nichts, was sie Ena hätte geben können.
Der schlimmste Sturm war bald vorbei, wenn auch der hohe Seegang noch anhielt. Die Eintönigkeit der Fahrt, das stete Prasseln des Regens und das Auf und Ab der Wellen ließen Briony immer wieder in einen tranceartigen Halbschlaf verfallen und davon träumen, wie sie eines Tages wieder in die Südmarksburg einziehen würde, freudig begrüßt von ihrem Volk und ... wem noch? Barrick war verschwunden, und sie durfte im Moment nicht zu viel daran denken: Es war, als ob sie eine schreckliche Wunde davongetragen hätte, aber nicht hinzusehen wagte, ehe die Wunde verbunden war, weil sie fürchtete, sonst in Ohnmacht zu fallen und am Wegrand zu sterben, ohne Hilfe gefunden zu haben. Aber wer war da noch? Ihr Vater saß immer noch im fernen Hierosol gefangen. Ihre Stiefmutter Anissa war zwar, wenn sie denn nichts mit dem mörderischen Verrat ihrer Dienerin zu tun hatte, keine Feindin, aber sie war ihr auch keine echte Freundin und schon gar keine Mutter. Wen gab es noch, den Briony liebte oder auch nur gernhatte? Avin Brone? Der war zu streng, zu verschlossen. Wen dann?
Aus irgendeinem Grund fiel ihr der Gardehauptmann Vansen ein — aber das war ja Unsinn! Wer war schon dieser Vansen mit seinem gewöhnlichen Gesicht, seinem gewöhnlichen braunen Haar und seiner Haltung, die immer so straff war, dass sie fast schon wie eine schneidige Pose wirkte? Auch wenn ihr inzwischen klar war, dass er nicht so viel Schuld am Tod ihres älteren Bruders trug, wie sie einst gedacht hatte, war er für sie doch immer noch ein Nichts — ein kleiner Soldat, ein Befehlsempfänger, jemand, der zweifellos nie groß über die Kaserne und die Schenke hinausdachte und wahrscheinlich seine freie Zeit damit verbrachte, losen Schankmägden an die Wäsche zu gehen.
Seltsam, dass sie trotzdem gerade jetzt sein nachdenkliches Gesicht vor sich sah, dass sie so unvermittelt an ihn dachte, noch dazu fast zärtlich ...
Merolanna. Natürlich — die gute alte Tante Lanna!
Brionys Großtante würde ihrer triumphalen Rückkehr beiwohnen. Aber wie musste es ihr jetzt gehen? Etwas Panikähnliches überkam
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