Das Spiel
Glück Euch beiden, Herrin, Herr.« Ena tat einen Schritt, drehte sich dann noch einmal um. »Heiliger Taucher, trag mich hoch, jetzt hätt ich's doch fast vergessen — Vater hätt mich gehäutet, gespannt und geräuchert!« Sie holte ein Säckchen aus der Tasche ihres voluminösen Rocks und warf es Shaso zu. »Da sind noch ein paar Münzen, damit Ihr weiterkommt, Herr.« Sie sah Briony fast schon mitleidig an. »Kauft der Prinzessin vielleicht was Rechtes zu essen.«
Ehe Briony und Shaso irgendetwas sagen konnten, schob das Skimmermädchen das Boot über den nassen Sand ins Wasser zurück und watete dann in die Bucht hinaus. Sie schwang sich so anmutig auf die Ruderbank wie ein Kunstreiter auf ein Pferd; gleich darauf waren die Ruder im Wasser, und das Boot glitt gegen den Wind hinaus, tanzte über die hereinrollenden Wellen.
Briony sah dem Boot und dem Mädchen nach, bis sie verschwunden waren. Sie fühlte sich plötzlich sehr einsam und sehr müde.
»Eins haben alle Dörfer und Städte gemeinsam«, sagte Shaso sarkastisch. »Sie werden nicht zu
uns
kommen.« Er zeigte über die Dünen auf die Hügel mit ihrem zerzausten Bewuchs von Sträuchern und krüppeligen Bäumen. »Sollen wir uns auf den Weg machen, oder habt Ihr einen triftigen Grund, warum wir hier herumstehen sollten, bis uns jemand sieht?«
Sie wusste, sie hätte dankbar sein sollen, dass sein altes Feuer wiederkehrte, aber im Augenblick war sie es nicht.
Auch Shaso schien seine Energie bereits verausgabt zu haben. Er hielt den Kopf gesenkt und sagte kein Wort, während sie über die Dünen zu einem Pfad marschierten, der sich am Fuß der Berge dahinzog.
Briony hatte ursprünglich die Frage weiterverfolgen wollen, warum sie nach Bokeburg gingen, der Hauptstadt von Marrinswalk, die aber dennoch ein ziemlich verschlafenes Nest war, und was er vorhatte, wenn sie dort ankamen, aber jetzt war es ihr ganz recht, ihre Kräfte für den Marsch aufsparen zu können. Der Wind, den sie zunächst im Rücken gehabt hatten, drehte jetzt und blies ihnen so kräftig ins Gesicht, dass sich jeder Schritt anfühlte, als stiegen sie eine steile Treppe hinauf. Die dicken, grauen Wolken hingen so tief über ihnen, dass Briony das Gefühl hatte, hinauflangen und hineingreifen zu können. Sie war dankbar für die dicken Mäntel, die ihnen die Skimmer gegeben hatten, aber der schwere Stoff war immer noch feucht vom Regen und hing bleischwer an ihr. Ihre höfischen Kleider, so unbequem sie auch sein mochten, schienen ihr plötzlich gar nicht so übel: Immerhin waren sie warm und trocken gewesen.
Nach einer Stunde etwa sah Briony die ersten Anzeichen menschlicher Besiedelung: ein paar ärmliche Katen auf Hügelkuppen, inmitten von Bäumen. Bei einigen kräuselte sich Rauch aus den Löchern im Dach oder sogar aus schiefen Kaminen, und Briony brach ihr Schweigen, um Shaso zu fragen, ob sie nicht in einer der Katen kurz haltmachen könnten, um sich aufzuwärmen.
Er schüttelte den Kopf. »Je weniger Menschen, desto größer die Gefahr, dass sich jemand an uns erinnert. Hendon Tolly und seine Männer haben bestimmt schon den Verdacht, dass wir gar nicht mehr auf der Burg sind, und binnen Kurzem werden sie in jeder Ortschaft an der gesamten Brennsbucht herumfragen. Wir sind ein auffälliges Paar, ein schwarzhäutiger Mann und ein weißhäutiges Mädchen. Wenn uns jemand sieht, ist es nur eine Frage der Zeit, dass Hendons Häscher es erfahren.«
»Aber dann sind wir doch längst wieder weg!«
»Irgendwo
müssen wir uns ja verstecken. Wollt Ihr den Tollys wirklich verraten, dass sie die Suche auf der Burg und in der gesamten übrigen Umgebung einstellen können und sich nur noch auf eine Gegend zu konzentrieren brauchen — zum Beispiel auf Marrinswalk?«
Die Vorstellung, dass hinter ihnen Bewaffnete das Land durchkämmten, machte Briony schaudern. Sie beschleunigte ihren Schritt. »Aber irgendwann wird uns doch jemand sehen. Wenn wir nach Bokeburg oder in eine andere Stadt kommen. Städte sind doch voller Menschen.«
»Genau das ist unsere größte Chance. Unsere
einzige
Chance vielleicht. Wir fallen weniger auf, wo viele Menschen sind — zumal, wenn auch Menschen meiner Rasse darunter sind. Und damit für jetzt genug geredet.«
Sie folgten dem Weg in ein weites Tal hinab. An dem breiten Fluss, der sich den Talgrund entlangschlängelte, befand Shaso immerhin, dass sie kurz anhalten konnten, um zu trinken. Sie trafen auf ein paar weitere Häuser, primitive Bauten
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