Das Spiel
loderten die Flammen, da kalte Luft in den oberen Regionen des Tempels einen Luftzug erzeugte. »Wer bringt das Kind den Göttern dar?«, fragte er.
»Ich«, sagte Anissa leise.
Sisel nickte. »Dann bringt ihn herbei.«
Zur Kettelsmits Überraschung trug die Königin das Kind nicht selbst zum Altar, sondern winkte der Amme, die den Säugling hielt, ihr zu folgen. Als beide vor dem Altar standen, schlug Sisel die Decke des Kindes zurück.
»Mit der lebendigen Erde des Kernios«, verkündete er und rieb die Fußsohlen des Kindes mit dunklem Staub ein. »Mit dem starken Arm des Perin« — er hob das Henkelkreuz, das der Hammer genannt wurde, und hielt es kurz über den Kopf des Kindes, ehe er es wieder absetzte — »und mit den singenden Wassern des Erivor, Schutzherr deiner Vorväter und Hüter des Hauses deiner Familie ...« Er tauchte die Finger in eine Schüssel und besprengte den Kopf des Kindes. Der Säugling fing an zu weinen. Sisel verzog kaum merklich das Gesicht und schlug dann das Zeichen der Drei. »Im Angesicht des Trigon und aller Götter des Himmels und im Hellen um den weisen Schutz all ihrer Orakel, denen dieser Tag geweiht ist, verleihe ich dir den Namen Olin Alessandros Benediktus Eddon. Möge der Segen des Himmels auf dir ruhen.« Der Hierarch sah auf. »Wer nimmt die Stelle des Vaters ein?«
»Ich, Eminenz«, sagte Hendon Tolly. Anissa sah ihn so freudig und dankbar an, als wäre er wirklich der Vater des Kindes, und in diesem Augenblick hatte Kettelsmit das Gefühl, alles zu durchschauen: Natürlich wollte Tolly Elan nicht — er hatte Größeres vor. Falls Olin nicht zurückkäme, würden seine Frau und sein Sohn einen anderen Mann in ihrem Leben brauchen. Und wer wäre dafür besser geeignet als der gut aussehende junge Edelmann, der ja bereits der Beschützer des kleinen Prinzen war?
Hendon Tolly nahm das Kind aus den Armen der Amme, ging langsam um den Altar herum und stellte den kleinen Olin damit symbolisch dem ganzen Haushalt vor. Jede andere Familie, und sei sie noch so reich, hätte diese Zeremonie in ihrem eigenen Haus durchgeführt, und bis zu diesem Tag hatten selbst die Eddons ihre neugeborenen Kinder in der gemütlichen Enge der Erivor-Kapelle segnen lassen und nicht in dieser riesigen Scheune von Trigonatstempel. Kettelsmit fragte sich unwillkürlich, wessen Idee es gewesen war, die Segnung vor so vielen Leuten vorzunehmen. Er war davon ausgegangen, dass sie die Darbringungszeremonie deshalb noch vor Herzog Caradons Eintreffen abhielten, weil es Unglück gebracht hätte, noch einen Tag zu warten und sie am Beginn von Kerneia zu feiern. Jetzt kam er zu dem Schluss, dass Hendon seinen älteren Bruder schlicht nicht dabeihaben wollte, damit er ihm nichts von der Aufmerksamkeit stahl, die ihm als dem Reichshüter zuteilwurde.
Nachdem Hendon ein zweites Mal um den Altar gegangen war, hob er den Säugling hoch in die Luft. Die Menge, die respektvoll geschwiegen hatte, begann jetzt zu klatschen und zu jubeln, wobei Durstin Krey und die übrigen engsten Tolly-Gefolgsleute den größten Lärm machten, während Kettelsmit auf den Gesichtern einiger älterer Adliger — von denen überhaupt nur wenige anwesend waren — mangelhaft verhohlenen Abscheu erkennen konnte. Er fragte sich, womit Avin Brone und die anderen ihr Fernbleiben entschuldigt haben mochten. Selbst wenn er, Kettelsmit, ein Mann mit Macht wäre, würde er es doch niemals riskieren, Hendon Tolly zu beleidigen.
Gleich darauf, als Hierarch Sisel die letzte Segnung beendete, erkannte Matthias Kettelsmit seinen eigenen Wahnsinn: Er hatte Angst, eine Einladung Tollys zu einer Kindssegnung abzulehnen, beschaffte dessen Geliebter aber heimlich Gift.
Es ist wie eine Krankheit,
dachte er, als die Menge sich zu zerstreuen begann, indem einige nach vorn zu Anissa und dem hohen Adel drängten, während andere auf den kalten, windigen Marktplatz hinauseilten. Es wirkte alles wie eine ganz normale feierliche Veranstaltung, aber Kettelsmit und jeder hier wusste, dass gleich auf der anderen Seite der Bucht ein furchtbarer, stiller Feind lauerte.
Ein Fieber geistiger Verwirrung herrscht an diesem Ort, und mich hat es genauso schlimm erwischt wie alle anderen. Wir sind keine Stadt mehr, wir sind ein Pestkrankenhaus.
Zu seinem Entsetzen bemerkte ihn Hendon Tolly prompt, als er an ihm vorbeizuschlüpfen suchte. »Ah, der Poet.« Der Reichshüter fixierte ihn mit einem amüsierten Blick um Tirnan Fretup herum, mit dem er sich gerade
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