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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
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—, und es beherrschte nicht nur die Straße von Kulloan, sondern auch die Ostaeische See. Das Alte Xis lag auf einer Hochebene, die so flach war wie ein Marmorfußboden, sodass man von jedem höher gelegenen Punkt aus bis hin zum Meer im Norden und zur Wüste im Süden blicken konnte. Hier in Hierosol war sie noch nicht hoch genug hinaufgestiegen, um etwas anderes zu sehen als weitere Hügel. Der Zitadellenberg als der höchste überragte alle anderen wie ein majestätischer Kopf, der auf die Straße von Kulloan hinausblickte, während sich die Stadt die Hügelflanken hinabzog wie ein Cape.
    Hierosol war so alt und hatte so viele Gesichter, dass Qinnitan jedes Stadtviertel wie eine eigene Stadt erschien, eine eigene Welt — die bewaldete, sanft ansteigende Fuchstorhöhe hinter ihr, wo die reichen Kaufleute wohnten, und gleich darunter das Segelmacher- und Schiffbauerviertel Sandzung, wo dank des angrenzenden Hafens von Kalkas rege Geschäftigkeit herrschte. Nicht nur eine neue Stadt, die es zu entdecken galt, sondern Dutzende neuer
Welten,
die alle auf sie warteten. Für ein Mädchen, das die letzten Jahre in der strengen Abgeschiedenheit des Bienentempels und des Frauenpalasts verbracht hatte, war das eine schwindelerregende Vorstellung.
     
    Dass sie von Xis über das schmale Meer hierher gelangt war, verdankte sie Axamis Dorza, dem Kapitän des Schiffs, das sie aus ihrer Heimat weggebracht hatte, als Dorzas Herr Jeddin jäh beim Autarchen in Ungnade gefallen war. Als sie die Nachricht von Jeddins Gefangennahme hier in Hierosol erreicht hatte, waren die meisten Seeleute der
Morgenstern von Kirous
in den dunklen Gassen des Hafens verschwunden. Die wenigen Verbliebenen waren jetzt gerade dabei, den alten Namen des Schiffs vom Rumpf zu schaben und einen neuen daraufzumalen. Qinnitan nahm an, dass Jeddins schlankes, schnelles Schiff jetzt Dorza gehörte, was wohl immerhin eine kleine Entschädigung dafür war, dass er nunmehr als Komplize eines Verräters galt.
    Sie wusste, es war, wenn auch zugleich in seinem Interesse, doch freundlich von Axamis Dorza gewesen, sie in sein Haus in Onir Soteros mitzunehmen, gleich am Fuß der felsigen Hügel, die sich über Sandzung erhoben. Natürlich musste Dorza zumindest ahnen, dass Qinnitan noch gefährdeter war als er selbst, und obwohl ihm das vorerst nicht schaden konnte, solange er sie vor den Spionen des Autarchen zu verstecken vermochte, würde es doch böse für ihn aussehen, wenn sie je ergriffen würde. Der Kapitän hatte ihr klar zu verstehen gegeben, dass es ihm nicht gefiel, wenn sie durch die Straßen streifte, nicht einmal in der Kleidung eines ehrbaren xandischen Mädchens (die kaum etwas von ihr sichtbar ließ), aber sie hatte ihm ebenso klar zu verstehen gegeben, dass sie sich von niemandem mehr einsperren lassen würde, schon gar nicht in Dorzas kleinem Haus. Es war eigentlich gar nicht sein Haus, sondern gehörte seiner hierosolinischen Ehefrau Tedora. Qinnitan vermutete, dass der Kapitän drüben in Xis noch ein größeres, respektableres Haus hatte und auch eine respektablere Frau und eine respektablere Familie, aber sie war zu höflich, um danach zu fragen. Und Qinnitan vermutete ferner, dass man ihr in diesem anderen Haus nicht solche Freiheiten gelassen hätte, aber Tedora war aus Eion, nicht aus Xand, und wollte lieber Wein trinken und mit ihren Nachbarinnen klatschen, als über die moralische Erziehung eines entflohenen xixischen Mädchens zu wachen. Deshalb und weil sie bei Dorza eine gewisse diffuse Unterwürfigkeit auslöste, hatte Qinnitan die Freiheit, die ihr nach ihren Kindheitsjahren in der Katzenaugenstraße geraubt worden war, zu einem großen Teil wiedererlangt.
    Ja, außer ihrem Horror vor dem Autarchen und der Angst, wieder ergriffen zu werden, gab es eigentlich nur eine Fliege im Honig ihres derzeitigen hierosolinischen Asyls ...
    »He, da bist du ja! Warte auf mich!«
    Qinnitan zuckte unwillkürlich zusammen — irgendwo im Hinterkopf rechnete sie immer damit, dass einer der Häscher des Autarchen sie packen würde —, obwohl sie schon nach einem halben Herzschlag gewusst hatte, wem diese Stimme gehörte.
    »Nikos.« Sie drehte sich seufzend um. »Bist du mir gefolgt?«
    »Nein.« Er war größer als sein Vater Axamis, von der Statur eines Mannes, aber ohne die dazugehörende Ernsthaftigkeit und Vernunft, und auf Wangen und Kinn und am Hals spross ihm der erste Flaum eines schwarzen Bartes. Er lief ihr nach wie ein zu groß geratenes

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