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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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gewöhnlich die Kleider abgelegt wurden, diesmal aber ein bekleideter Edelmann saß, den sie zu ihrem Entsetzen sofort erkannte: Es war Otto von Poitou, mit einer geschwollenen Backe und einem ungeduldigen Gesichtsausdruck.
    »Ihr seid also eine der Frauen aus Salerno, wie?«, fragte er auf Lateinisch, und sie nickte, ihrer Stimme nicht trauend.
    »Ausgezeichnet«, sagte er. »Ich muss diesen Zahn endlich loswerden, aber der Stümper, der auf der Burg seine Blutegel verwahrt, hat mir fast den halben Kiefer mit herausgerissen.«
    Es war offenkundig, dass er sie nicht erkannte. Bestimmt hatte er sie längst vergessen. Eine kurze Begegnung vor vier Jahren, bei der er versucht hatte, eine Frau einzuschüchtern, war für ihn gewiss unwichtig. Ein Nichts, neben dem er ein Alles war.
    »Es soll Euer Schaden nicht sein«, sagte er. Sie war versucht zu antworten, dass er mit seinem Zahn glücklich werden konnte, soweit es sie betraf. Doch sie hatte geschworen, Kranken zu helfen, und ein Zahn, der im Mund eiterte, konnte den Kieferknochen angreifen. Außerdem verursachte er teuflische Schmerzen.
    Sie musterte ihn. Er hatte ihr gedroht, doch ob er seine Drohungen wahr gemacht hätte, das konnte sie nicht wissen, genauso wenig, wie sie wissen konnte, ob der gichtkranke Kaufmann von Reims die Angewohnheit hatte, seine Mägde zu vergewaltigen. Judith schluckte ihre Abneigung hinunter und beschloss, Otto von Poitou so zu behandeln, als wäre sie ihm noch nie begegnet, und ihre Pflicht als Ärztin erfüllen.
    Soweit sich das durch vorsichtiges Klopfen und im Licht einer Kerze erkennen ließ, war einer seiner Backenzähne braun und das Fleisch um ihn herum entzündet. Ottos Hände krallten sich an den Rändern der Bank fest, doch er stöhnte nicht, obwohl er beträchtliche Schmerzen haben musste. »Ich brauche Zinnkraut und Petersilie«, sagte sie, »um das Blut zu stillen und um dem Fleisch zu helfen, sich wieder zusammenzuziehen, wenn ich Euch den Zahn gezogen habe. Zinnkraut habe ich selbst dabei, doch nach der Petersilie müsst Ihr schicken lassen. Außerdem solltet Ihr Eure Wachen hereinholen, um Euch zu halten.«
    »Ich bin ein Mann, der Schmerz ertragen kann«, sagte er ungehalten. Judith zwang sich, beschwichtigend zu klingen.
    »Darum geht es nicht. Wenn Ihr Euren Kopf bewegt, während ich den Zahn ziehe, dann könnte das üble Folgen haben.«
    Er murmelte, an König Richards Seite auf dem Schlachtfeld gefochten zu haben, aber er gab nach, was immerhin bewies, dass er nicht so dumm war, seinen Stolz über seine Gesundheit zu stellen. Judith ließ heißes Wasser bringen und benutzte ein wenig davon, um Nelkenöl aus ihrer Ärztetasche in einem Becher zu verdünnen. Nelkenöl war immer gut bei Entzündungen im Mundbereich, und es würde seinen Mund reinigen, ehe sie sich um den Zahn kümmerte. Er gurgelte und trank, wie sie es ihm befahl. Es war kaum zu glauben, dass dies der gleiche Mann war, der den Wunsch ausgedrückt hatte, der Herzog von Österreich möge durch den Anblick eines Juden noch etwas qualvoller zur Hölle fahren.
    »Mir kommt der Akzent vertraut vor, mit dem Ihr sprecht, Magistra«, sagte er. Ihre Hand schloss sich ein wenig fester um die Zange, die Gilles schnell geholt hatte. »Kann es sein, dass Ihr aus einem der deutschen Fürstentümer stammt?«
    »Ich bin Rheinländerin«, erwiderte sie, und da inzwischen der Zinnkrautaufguss fertig war, bat sie seine Soldaten, Otto festzuhalten, einer den Kopf, einer die Schultern.
    Das Gefährlichste beim Ziehen eines faulen Zahns war, die Zange falsch anzusetzen, so dass er zerbarst und die Wurzel im Fleisch blieb. Es erforderte all ihr Können, all ihre Kraft. Die Erinnerung an ihre erste Begegnung mit dem Mann, der vor ihr stand, wich zurück wie das Meer bei Ebbe. Ihre eigenen Zähne waren aufeinandergepresst.
    Ein Schrei, mit einem Ruck war der Zahn entfernt, und der Graf von Poitou spie Blut. Sie flößte ihm umgehend den Zinnkrautaufguss ein und bat ihn, den Kopf zurückzulehnen. Als er sprechen wollte, hielt sie ihm den Mund zu. »Gurgeln, schlucken und speien, aber nicht reden«, sagte sie. »Jedenfalls nicht in der nächsten Stunde.« Sein Mund bewegte sich unter ihren Fingern, die blutig wurden, und sie konnte spüren, dass er durch die Nase schnaubte, doch er nickte. Obwohl sie sich auf heißen Dampf und ein Bad gefreut hatte, war ihr nicht mehr danach; sie wollte nur fort, ehe Otto sich an sie erinnern konnte, jetzt, wo sie ihre Pflicht als Ärztin getan

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