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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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hatte. Außerdem war sie trotz allem zufrieden mit sich, und sie hatte Hunger, wie oft, wenn ihr etwas besonders Schwieriges gelungen war.
    Einer von Ottos Wachen gab ihr zwei kleine Silbermünzen, die sehr neu aussahen und zu leicht für das waren, was sie sein sollten. Sie unterdrückte den Wunsch, darauf zu beißen, um die Echtheit zu überprüfen. Es würde ihren Zähnen schaden, und außerdem gab es eine einfache Erklärung: Das Lösegeld für König Richard hatte dafür gesorgt, dass in seinem Reich das gute Silber fehlte, um gerechte Münzen zu prägen.
    »Wenn die Petersilie endlich hier eintrifft, dann nehmt sie für weitere Aufgüsse mit«, sagte sie und empfahl sich.
    * * *
    Ursprünglich hatte Walther vorgehabt, auf dem Weg von Freiburg nach Hagenau – gehüllt in neue Beinlinge, ein Oberkleid aus Leder und einen Schafspelz – einen Knappen zu finden. Keiner von Bertholds Leuten wäre froh gewesen, den Dienst bei einem reichen Herzog mit dem Dienst bei einem fahrenden Sänger zu tauschen, wohingegen in einem der kleinen Orte jemand zu finden sein sollte, der froh sein würde, aus seiner Heimat wegzukommen. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass drei der Dörfer, durch die er kam, gerade gebrandschatzt worden waren. Wie es schien, war ein Graf dabei, sein Gebiet zu erweitern: »Der Kaiser ist tot, und niemand weiß, wer jetzt im Land herrscht«, sagte einer der Männer, mit denen Walther sprach. »Deswegen hat der Graf zugeschlagen. Seine Leute haben uns gesagt, wir hätten von Stund an ihm Abgaben zu leisten und nicht mehr dem Vogt, wenn wir nicht im Frühjahr unsere ganze Saat verlieren wollen.« Auf seinem Gesicht waren Tränenspuren zu erkennen. »Die Ernte war eingebracht und für den Winter eingelagert. Jetzt ist alles fort. Was sollen wir machen? Wir wollen sterben!«
    Die Bauern hatte nicht das Recht, ihr Dorf zu verlassen, obwohl sie nur Zinsbauern, keine Leibeigenen waren. Einen zu verleiten, mit ihm zu gehen, hätte diesen das Leben kosten können, wenn sein Herr ihn irgendwann wieder entdeckte. Sich irgendwo zu beschweren, war für die Bauern ebenfalls zwecklos: Man hätte sie ausgelacht und lediglich darüber entschieden, welchem Herrn sie zukünftig dienen mussten. Keiner der weinenden Leute erweckte bei Walther den Eindruck, als hätte ihr Wunsch zu sterben etwas damit zu tun, das ewige Leben zu erreichen; sie wollten einzig und allein ihrem trostlosen Dasein entkommen.
    Bisher war die Frage nach dem nächsten Herrscher für Walther ein Glücksspiel gewesen, das den höchsten Einsatz erforderte und fast so aufregend war, wie gegen die Stimmung einer Menge anzusingen und sie für sich zu gewinnen. Was er aber auf den Dörfern sah und hörte, erinnerte ihn daran, dass für die Leute, die in ihrem Leben wohl nie einen Herzog sehen würden, geschweige denn einen König, das Fehlen eines Herrschers sehr wohl alles verändern konnte, und nicht zum Guten.
    Einer der Dörfler hatte ein gebrochenes Bein, wie der alte Herzog von Österreich, nur dass es für ihn keine Ärzte gab, nur einen Stock und verdreckte Lumpen, mit denen sein Bein geschient und eingewickelt war. Während der Stunde, die Walther im Dorf verbrachte, hörte der Mann nicht auf zu schreien. Walther fragte, ob niemand Branntwein oder dergleichen habe, um die Schmerzen des Mannes etwas zu erleichtern. Man antwortete ihm, der Verwundete würde ohnehin sterben, und Branntwein sei zu dieser Jahreszeit kostbar wie warme Kleidung. Schließlich hielt es Walther nicht mehr aus und bot an, für die Leute zu singen, wenn sie dem Mann einen Schluck gäben. Zuerst wurde er ausgelacht.
    »Geld können wir gebrauchen«, rief eine Dörflerin, »für Holz, um unsere Häuser wieder aufzubauen. Von Liedern kriege ich meine Kinder nicht satt.«
    »Aber für eine Weile ist es für sie Sommer statt Winter«, sagte Walther, »und wenn ich sie dazu bringe zu lachen, statt sich in den Schlaf zu weinen, ist das dann einen Schluck Branntwein für den Verwundeten wert?« Er wusste selbst nicht, warum ihm das so wichtig war. Doch die Schreie gingen ihm durch Mark und Bein, mehr als es die des alten Herzogs getan hatten, und für den hatte er auch ein wenig Ablenkung schaffen können.
    Am Ende sang er eines seiner Sommerlieder für die Dörfler, nicht eins über Könige und Fürsten, auch keines über unerwiderte Liebe, sondern etwas, das so schön, flüchtig und vergnügt sein sollte wie die Lieder, an die er sich von den Johannisfeuern seiner Kindheit

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