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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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plötzlich aus dem Buch Samuel, aus der Totenklage Davids um Jonathan. »Weh ist mir um dich, mein Bruder Jonathan! Wie warst du mir so hold. Deine Liebe war mir wundersamer als Frauenliebe.«
    Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Greuel, zitierte die Stimme ihres Vaters aus der Thora. Ohne nachzudenken, trat sie einen Schritt zurück. Gilles zuckte zusammen, und sie sah die Mischung aus Verletzung, Scham und Ärger in seinen Augen, die ihr nur allzu vertraut war. Es brachte sie dazu, seine Hand zu ergreifen, wie er die ihre in der Nacht von Chinon genommen hatte. Er war ihr Freund und hatte ihr gerade etwas anvertraut, das mindestens genauso gefährlich war wie ihre eigenen Geheimnisse. Sie verstieß selbst ständig gegen die Vorschriften des Gesetzes; sie konnte nur selten den Sabbat einhalten, sie log nach außen und gegenüber sich selbst. Auf dem Weg von Salerno nach Frankfurt hatte sie Milch getrunken und gleichzeitig Fleisch gegessen, was nicht koscher war, und in Salerno hatte sie an Sezierungen teilgenommen. Später konnte sie darüber nachgrübeln, was es bedeutete, dass er seine eigenen Gründe gehabt hatte, sie zu heiraten, die nichts mit dem Wunsch zu tun hatten, sie vor Otto zu schützen. Jetzt musste sie ihm zeigen, dass sie keine Heuchlerin war. Er hatte sie nie spüren lassen, dass er sie als gering ansah, nicht als Jüdin, nicht als weiblichen Arzt. Er hatte sie nicht im Stich gelassen. Also entgegnete sie mit den Worten Ruths an ihre Schwiegermutter Noomi in der Stunde der Not: »Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren soll. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen. Wo du bleibst, da bleibe auch ich.«
    Die Erleichterung glitt wie eine Welle über sein Gesicht, und er erwiderte den Druck ihrer Finger. Sie hielt immer noch seine Hand, als sie das Haus ihres Onkels betraten, wo reger Betrieb herrschte. Er musste gerade von einem seiner Treffen mit Gerhard oder Constantin zurückgekehrt sein und war nicht allein. Sein Schreiber und zwei weitere Männer standen bei ihm. »Ah, Nichte«, sagte Stefan. »Denk dir, einer deiner alten Patienten ist in der Stadt und wollte dir seinen Respekt erweisen.«
    * * *
    Walther hatte sich alle Mühe gegeben, die richtigen Prioritäten zu setzen: Er war erst zum Haus des Münzmeisters Constantin gegangen und hatte als fahrender Ritter vorgesprochen, der nicht in einer der Schenken Quartier beziehen wollte und die Klöster bereits voll gefunden hatte. Auf die Frage nach Empfehlungen, die nicht nach einem Schreiben verlangte, erklärte er, die Gastfreundschaft des Landgrafen von Thüringen und des Herzogs von Zähringen genossen zu haben. »Außerdem verdanke ich den Erhalt meiner Stimme einer Ärztin aus Eurer schönen Stadt, der Dame Jutta, die mich wiederholt vor völliger Stummheit bewahrte«, fügte er hinzu. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass just in diesem Moment jener grauhaarige Kaufmann, der ihm in Nürnberg solche Magenschmerzen bereitet hatte, das Haus des Münzmeisters verlassen wollte und ihn auch sofort wiedererkannte: »Herr Walther von der Vogeltränke, nicht wahr? Aber ich dachte, Ihr hättet damals an Durchfall gelitten.«
    »Es war eine lange Reise, Meister Steffen. Ich hatte mancherlei Beschwerden.«
    »Wart Ihr nicht im Dienst des Bischofs von Passau? Ich meine mich zu erinnern, dass Ihr Botendienste für ihn verrichtet habt.«
    »Nicht mehr als Ihr, denn wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, habt Ihr bei ihm vorgesprochen und eine Botschaft für den Erzbischof von Köln von ihm empfangen.«
    »Mmm … Ihr habt ein sehr gutes Erinnerungsvermögen, Herr Walther. Das spricht für Eure Gabe, Dinge zu erzählen und zu singen, die zu hören es sich lohnt. Wisst Ihr, ich bin wegen all der Umtriebe in den letzten Wochen noch gar nicht dazu gekommen, das Weihnachtsfest in meinem Haus vorzubereiten. Warum werdet Ihr nicht mein Gast?«
    Sticheleien hin oder her, das war mehr, als Walther erwartet hatte, und obwohl er sich mahnte, nicht zu vergessen, dass Stefan von Köln ein scharfsinniger Mann war, der bestimmt mehr als nur Winterlieder hören wollte, begleitete er ihn beschwingten Schrittes. Er legte sich im Kopf mehrere Bemerkungen zurecht, kluge, gewitzte, ernste Bemerkungen für das Wiedersehen. Dabei vergaß er selbstverständlich nicht, dass diese Begegnung keine größere Bedeutung hatte, schließlich war er ein Mann von Welt, und es war nur ein einziger Kuss gewesen.
    Nur auf eins

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