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Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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zum Besten. » Ist das auch bestimmt ein christliches Mittel? Ich habe in Salerno Christen behandelt, Juden und Moslems, und eines kann ich dir schwören, Gilles, die Körpersäfte sind bei allen die gleichen. Ich bin eine Ärztin, keine Magierin! Ich verwende keine Talismane oder Gebete, und mir ist völlig egal, wie der Mars gerade zur Venus am Firmament steht. Christliches Mittel!«
    Es war ein unverhältnismäßig starker Ausbruch bei so einem kleinen Anlass, aber in ihr hatte sich seit Jahren etwas aufgestaut, seit jenem Tag in Klosterneuburg. Im letzten Jahr war es immer schlimmer geworden, und wenn sie sich nicht einmal Luft machte, dann würde sie irgendwann die Beherrschung verlieren, am Ende gar in Gegenwart des Erzbischofs.
    »Manchmal wünschte ich«, sagte sie heftig, »ich könnte sie alle zwingen, nur einen Tag lang so wie wir zu leben. Eine Stadt zu betreten und sich zu fragen: Hat man hier auch unseresgleichen umgebracht, und war das erst kürzlich oder schon vor ein paar Jahren? Geld gegen Zins zu verleihen, nicht weil wir es wollen, sondern weil wir es müssen, da es Christen verboten ist, und zu wissen, dass es häufig nicht zurückgegeben wird, wenn ein Kirchenfürst oder der Herrscher des Landes das so verfügt. Heilen zu wollen, nur um zu hören, dass man dazu einen neuen Namen braucht, ständig lügen zu müssen. Aber keiner von ihnen wird das je verstehen!«
    Gilles blieb stehen. »Ich verstehe es«, sagte er sehr ernst.
    Zuerst nahm sie an, er spräche davon, dass er durch den Dienst für die Kaufleute und die Reise nach Chinon genügend erlebt hatte, um zu begreifen, wovon sie sprach. Versöhnlich begann sie: »Du bist mir ein guter Freund gewesen …«
    »Nein«, sagte Gilles leise, »ich verstehe, was es heißt, ständig lügen zu müssen und Angst zu haben.«
    Verwundert schaute sie ihn an. Gilles hatte bei den gelegentlichen Pöbeleien auf der Reise nie Furcht gezeigt, sondern sich immer durchgesetzt, nur nicht bei Otto und seinen Leuten, was schlicht und einfach gesunder Menschenverstand gewesen war. Glaubte er etwa immer noch, sie mache ihm einen Vorwurf? Einen Herzschlag lang kam ihr eine andere Möglichkeit in den Sinn, diejenige, dass Gilles selbst ein Jude war, der seinen Glauben versteckte, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder; er hätte sie nie danach gefragt, was Schalet war, als er das Brot einmal bei ihr fand.
    »Jutta«, fuhr Gilles fort und trat einen Schritt näher, so nahe, dass er ihr beinahe ins Ohr flüsterte, »wenn man Menschen meiner Art entdeckt, dann werden sie am Pranger mit der Staupe geprügelt, wenn sie Glück haben. Sonst werden sie verbrannt. Es – beim Heer war es leichter, dort sieht man lange keine Frauen, und es findet sich meist jemand, der auch so ist. Aber seit mein Herr mich zurückgelassen hat, habe ich jedes Mal um mein Leben gefürchtet, wenn ich – wenn ich jemanden gefragt habe. Wenn man den falschen Mann anspricht, dann hat man Glück, viel Glück, nur ausgelacht zu werden. Man hat immer noch Glück, wenn sie nur zuschlagen, denn sie könnten einen vor aller Welt bezichtigen, und dann würde ich brennen, geradeso wie die Juden in Blois. Deswegen habe ich auch … Graf Otto hat mich gefragt, an jenem Tag. Er fragte, ob ich dich wirklich heiraten will. Das sei ein guter Witz, hat er gesagt; er würde nie einen guten Christen zwingen, eine Jüdin zu heiraten. Ich schwor ihm, ich sei wirklich dein Verlobter und wolle dich heiraten, und er lachte und lachte, er bog sich vor Vergnügen, und ständig hatte ich das Gefühl, er wüsste Bescheid. Über mich, verstehst du, nicht über dich. Dabei haben gewöhnlich nur solche Leute einen Blick für unsereins, die selbst so veranlagt sind. Aber wenn ich … als verheirateter Mann, dachte ich, werden sie mich nicht mehr gleich auf den ersten Blick verdächtigen, und die Angst, sie müsste nicht mehr jeden Tag mein Begleiter sein.« Er hatte langsam und stockend begonnen und war dann immer schneller geworden, als müsse er die Worte herauspressen, ehe er die Zeit hatte, darüber nachzudenken, was für Folgen es haben könnte.
    Zuerst fühlte Judith sich wieder nach Frankreich versetzt, in ein Land, dessen Sprache sie nicht beherrschte, wo hin und wieder einige Worte so vertraut klangen, dass sie das Gesagte zu verstehen meinte, nur um im nächsten Satzteil wieder den Faden zu verlieren. Gilles merkte offenbar, dass ihr der Schlüssel zu dem fehlte, was er ihr erschließen wollte, denn er zitierte

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