Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Spiel der Nachtigall

Das Spiel der Nachtigall

Titel: Das Spiel der Nachtigall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
schluckte sie ihren Groll hinunter und sagte nur: »Wenn ich nicht in der Lage bin, mein eigenes Leben zu meistern, dann sollte es dich doch beruhigen, Onkel, dass ich mich nunmehr im gottgefälligen Stand der Ehe befinde. Und da Gilles für dich arbeitet, musst du ihn für ehrlich und fähig halten; ich verstehe nicht, welche Einwände du gegen ihn erbringen könntest. Vertraust du ihm auf einmal nicht mehr?«
    Stefan legte begütigend einen Arm um ihre Schultern. »Doch, das tue ich. Ich vertraue ihm so sehr, dass ich ihn als Leibwächter für die Geiseln vorgeschlagen habe, die der Herzog von Zähringen dem Erzbischof gestellt hat, als Zeichen seines guten Willens. Sie sind heute eingetroffen.« Da Stefan am guten Willen des Herzogs von Zähringen nichts liegen konnte, war das alles andere als beruhigend. »Doch das heißt nicht, dass ich ihn für würdig befinde, die Nichte eines der wichtigsten Kaufleute der Stadt zu heiraten. Wäre nicht ein unglücklicher Zufall gewesen, wäre es nie dazu gekommen, und du würdest heute keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden.«
    Ihre Hände waren so fest um ihren Mantel und die Nadel verkrampft, dass sie sich stach; noch ehe sie das kurze Aufflackern von Schmerz spürte, konnte sie Blut aus ihrem Handballen tropfen sehen. Blutstropfen waren aus guten Stoffen so gut wie nicht mehr zu entfernen; sie ließ hastig alles los, was sie hielt, und fuhr sich mit der Zunge über den Handballen. »Es war kein unglücklicher Zufall«, sagte sie schneidend, »sondern der Mann, den du zum nächsten deutschen König machen willst.«
    »Umso mehr bin ich bestrebt, die Folgen unseres Besuches in Chinon zum Besseren zu wenden.« Er löste seinen Arm von ihrer Schulter und ergriff ihre Hand, die sie in die Höhe gehoben hatte, damit die Blutung schneller stoppte. »Glaub mir, ich habe über Graf Ottos Verhalten dir gegenüber nachgedacht und das, was es bedeutet. Ich bin nicht blind, Nichte. Es tat mir weh, dich als Ziel eines groben Scherzes zu sehen.«
    Vor ein paar Monaten hätte Judith das als Entschuldigung aufgefasst und wäre dankbar gewesen, dass ihr Onkel endlich verstand, auf wie viele Arten ihr jener Abend in Chinon zuwider war und warum es ihr nicht nur um ihre verletzten Gefühle ging, wie er einmal behauptet hatte. Aber mittlerweile kannte sie Stefan besser; außerdem wäre eine Entschuldigung nach all dem, was er vorher gesagt hatte, die unlogischste Handlung. Nein, er musste auf etwas anderes hinauswollen.
    »Deswegen«, fuhr er fort, »war ich froh, als mir klarwurde, dass es an uns ist, dem Vorkommnis eine andere Wendung zu geben. Graf Otto hat ganz offensichtlich Gefallen an dir gefunden. Er mag eine grobe Art und Weise gehabt haben, um das zu zeigen, doch man muss bedenken, dass er noch jung ist. Nichte, wenige Frauen unseres Volkes werden so verehrt wie Esther.«
    Diesmal verstand sie sofort, was er meinte, und fragte sich unwillkürlich, ob er ihre Hand festhielt, damit sie ihn nicht schlagen konnte.
    »Und zweifellos siehst du dich bereits als Mordechai, der Esther dem König Xerxes zuführt und als sein erster Minister endet. Nun, Onkel, es gibt Frauen, die von unserem Volk mehr verehrt werden als Esther. Ich bin nach einer von ihnen benannt.« Sie war noch nie so stolz auf diesen Umstand gewesen wie jetzt. Auch Stefan verstand sofort, was sie meinte: Die Judith der Schriften hatte den heidnischen Feldherrn Holofernes geköpft – danach, als er erschöpft eingeschlafen war.
    Abrupt ließ er ihre Hand los. »Über so etwas solltest du noch nicht einmal scherzen«, sagte er kühl.
    »Das Gleiche gilt für dich, Onkel. Mag sein, dass ich jung bin und Fehler bei meinen Entscheidungen begangen habe. Aber eines weiß ich genau, und das ist, dass man nicht die Schrift bemühen muss, um eine Hure eine Hure zu nennen. Genau das willst du gerade aus mir machen! Ich soll es für deinen Handel tun, nicht für unser Volk, wie Esther, denn für das jüdische Volk hast du in diesem Zusammenhang keinesfalls gesprochen.«
    Sie hatte sich Mühe gegeben, ruhig zu bleiben, hatte sich angestrengt wie selten in ihrem Leben. Doch sie zitterte vor Wut, und am Ende hatte ihre Selbstbeherrschung nachgegeben. Ihre Stimme wurde lauter und lauter; den letzten Satz schrie sie. Ihr Vetter und seine Mutter, die in einer anderen Ecke der Stube saßen, starrten sie betreten an. Judith fragte sich, ob sie sich entschuldigen sollte, zumindest bei Stefans Frau, und wusste, dass sie nichts dergleichen tun

Weitere Kostenlose Bücher