Das Spiel der Nachtigall
an.
»Dass du dein Versprechen nicht halten willst, soll zu meinem Besten sein? Das ist selbst für dich eine Verschwendung deines rednerischen Talents, Onkel.«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich dir das Geld nicht leihen werde, nur, dass ich es dir jetzt nicht leihen kann. Und offen gesprochen, Nichte, hättest du dir das denken können. Du weißt, welche Ausgaben mich zurzeit belasten.«
»Was ich weiß«, sagte Judith eisig, »ist, dass du mir ein Versprechen gegeben hast. Außerdem weiß ich, dass ich meine Versprechen dir gegenüber bisher alle erfüllt habe.«
Stefan setzte sich neben sie auf die Ofenbank und lächelte begütigend. »Niemand bestreitet das. Aber gerade der Wunsch, mitten im Winter deine Familie zu verlassen und allein mit einem Fremden in einem fremden Haus leben zu wollen, zeigt mir, wie jung du noch bist. Du brauchst die Weisheit und Leitung eines Vaters, Jutta, und da ich dein nächster Verwandter bin …«
»Es ist das Haus meines Vaters, in das ich zurückkehren möchte. Mit meinem Gatten. Nach christlichem und jüdischem Gesetz ist er es, dem ich Gehorsam schulde, Onkel, nicht du.«
»Dein Gemahl ist nicht dein Gemahl, das wissen wir beide«, sagte Stefan ruhig. »Ich nahm an, dass du froh sein würdest, wenn ich den Erzbischof ersuche, deine Ehe für ungültig zu erklären, wie du es auf unserem Rückweg von Chinon von mir gefordert hast. Du wirfst mir vor, meine Versprechen nicht zu halten, Nichte, aber inmitten der Verhandlungen, die unser aller Leben betreffen, habe ich daran gedacht, diese Bitte an den Erzbischof zu richten. Er ist einverstanden. Du musst dich nur von drei ehrbaren Frauen der Stadt untersuchen lassen, damit sie dir deine Jungfräulichkeit bestätigen.«
Es war nicht zu fassen! Sie weigerte sich zu glauben, dass er nicht genau wusste, was er da tat. Natürlich hatte sie gleich nach Chinon über die Auflösung ihrer Ehe mit ihm gesprochen, doch ehe sie ihm von den Verhandlungen des Erzbischofs mit dem Herzog von Zähringen erzählte, hatte sie ihm auch über ihre Pläne für ein Leben mit Gilles in ihrem alten Haus berichtet und seine Zustimmung und Unterstützung zugesagt bekommen. Sie hatte sogar schon mit dem Arzt Ja’akov gesprochen, der inzwischen dort wohnte, aber bereit war, es gegen eine entsprechende Summe mit ihr und Gilles zu teilen, um sich dann im Sommer ein neues Heim zu suchen.
»Warum tust du das?«, fragte sie ihren Onkel. »Es wird dir mehr Frieden in deinem eigenen Haus bringen, wenn ich es verlasse.«
»Du magst es glauben oder nicht, aber ich tue es für dich und meine Schwester, Gott sei ihrer Seele gnädig. Sieh dir an, was mit dir geschehen ist, seitdem du dein eigenes Leben bestimmst: Du verlässt Salerno, wo du doch am besten hättest als Ärztin wirken können, und reist lieber mit einem staufischen Schlagetot und einer Griechin, als einen ehrbaren Mann zu heiraten, den dein Vater für dich ausgewählt hat. Dann änderst du deine Meinung wieder und reist ab Nürnberg mit mir, obwohl ich ein Lügner und Betrüger hätte sein können, der nur vorgab, dein Onkel zu sein. Und nun hast du dich entschieden, einen unserer Söldner als deinen Gemahl zu betrachten. Jutta, wenn es je eines Beweises bedurft hat, dass Frauen nicht in der Lage sein dürfen, ihr eigenes Geschick zu betreiben, dann ist er durch dich nun erbracht.«
Sie hätte ihm nicht von Meir erzählen dürfen. Doch nein, dann hätte er einen anderen Grund gefunden, um sein Verhalten zu rechtfertigen. Stefan, dachte Judith, wäre in der Lage, den Tempel in Jerusalem Stein für Stein zu verkaufen und zu erklären, dass er es nur zum höheren Ruhme Gottes tut. Das war ihr schon seit einiger Zeit klar gewesen, doch sie fühlte sich trotzdem, als hätte er ihr einen Dolch in den Rücken gestoßen. Vielleicht hatte sie ihn tatsächlich ein wenig an der Stelle ihres Vaters gesehen, ohne sich dessen bewusst zu sein; sie hatte angenommen, dass er an sie glaubte, wie es ihr Vater getan hatte, nicht, dass er sie im Grunde für dumm und kindisch hielt.
Nun, es konnte ihr gleichgültig sein, was er dachte. Es musste ihr gleichgültig sein. Worauf es ankam, war, sich nicht länger von ihm ausnutzen zu lassen. Wenn er darauf bestand, sie weiterhin unter seinem Dach zu behalten, dann gewiss nicht aus verwandtschaftlicher Besorgnis. Um sich Zeit zu geben, darüber nachzugrübeln, was das sein könnte und wie sie ohne seine Hilfe genügend Geld für ihre Hälfte des Hauses aufbringen würde,
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